28 Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass er nahe vor der Tür ist. (Markus 13,28-29)
Diese Verse werden seit der Entstehung des modernen Staates Israel darauf bezogen, dass die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates ein Zeichen dafür sei, dass die Wiederkunft Jesu nahe bevorstehe. Der Feigenbaum sei ein Bild für Israel. Die Rückkehr zahlreicher Juden in das Land der Verheißung und die Errichtung des Staates Israel würden zeigen, dass nun die Zweige saftig werden und Blätter treiben. Die Bekehrung Israels sei nahe. Ist dieses Verständnis biblisch begründet?
Wenn man in der Bibel nach dem Begriff „Feige…“ sucht, findet man in gesamten Alten Testament keine Stelle, in der der Feigenbaum ein Sinnbild für Israel ist. Es gibt einige Stellen, in denen der Feigenbaum für die Fruchtbarkeit des verheißenen Landes steht, aber keine, wo er direkt das Volk oder das Land symbolisiert.
Am ehesten in diese Richtung weist Hosea 9,10:
Wie man Trauben findet in der Wüste, so fand ich Israel; wie die erste Frucht am jungen Feigenbaum, so sah ich eure Väter. Sie aber kamen nach Baal-Pegor und weihten sich der Schande; da wurden sie so abscheulich wie der, den sie liebten.
Hier vergleicht der Prophet Israel mit der ersten Frucht am jungen Feigenbaum. Er wollte damit ausdrücken, wie köstlich Israel für Gott war.
Eine ähnliche Symbolik weist ein Vergleich in Jeremia 24 auf:
1 Der HERR ließ mich schauen und siehe: Zwei Körbe mit Feigen standen vor dem Tempel des HERRN. Dies geschah, nachdem Nebukadnezzar, der König von Babel, Jojachin, den Sohn Jojakims, den König von Juda, sowie die Fürsten von Juda samt den Schmieden und Schlossern aus Jerusalem weggeführt und sie nach Babel gebracht hatte. 2 In dem einen Korb waren sehr gute Feigen, wie Frühfeigen, im andern Korb sehr schlechte Feigen, so schlecht, dass sie ungenießbar waren. 3 Der HERR fragte mich: Was siehst du, Jeremia? Feigen, antwortete ich. Die guten Feigen sind sehr gut, die schlechten aber sehr schlecht, so schlecht, dass sie ungenießbar sind. 4 Nun erging an mich das Wort des HERRN: 5 So spricht der HERR, der Gott Israels: Wie auf diese guten Feigen, so schaue ich auf die Verschleppten Judas zum Guten, die ich von diesem Ort vertrieben habe ins Land der Chaldäer. 6 Ich richte meine Augen auf sie zum Guten und lasse sie in dieses Land heimkehren. Ich will sie aufbauen, nicht niederreißen, einpflanzen, nicht ausreißen. 7 Ich gebe ihnen ein Herz, damit sie erkennen, dass ich der HERR bin. Sie werden mein Volk sein und ich werde ihr Gott sein; denn sie werden mit ganzem Herzen zu mir umkehren. 8 Aber wie mit den schlechten Feigen, die so schlecht sind, dass sie ungenießbar sind, ja, so spricht der HERR, so verfahre ich mit Zidkija, dem König von Juda, mit seinen Fürsten und dem Rest Jerusalems, mit denen, die in diesem Land übrig geblieben sind, und denen, die sich im Land Ägypten niedergelassen haben. 9 Ich mache sie zu einem Bild des Schreckens und des Unheils für alle Reiche der Erde, zum Schimpf und Gespött, zum Hohn und zum Fluch an allen Orten, an die ich sie verstoße. 10 Ich sende unter sie Schwert, Hunger und Pest, bis sie ganz ausgerottet sind vom Ackerboden, den ich ihnen und ihren Vätern gegeben habe. (Jeremia 24,1-10)
Die guten Feigen sind das Bild für die Juden, die bei der ersten Verschleppung durch Nebukadnezzar im Jahr 597 v. Chr. nach Babylonien mussten. Die schlechten Feigen stehen für diejenigen, die noch in Jerusalem geblieben waren. Vom Feigenbaum ist hier jedoch keine Rede.
Möglicherweise hat Jesus bei der Verfluchung des Feigenbaums (Matthäus 21,18-22) an das Volk Israel gedacht. Im Text ist allerdings davon keine Rede.
Die Deutung des Feigenbaums auf das Volk Israel steht somit biblisch betrachtet auf einem sehr schwachen Fundament1.
Man kann durchaus der Ansicht sein, dass die Entstehung des modernen Staates Israel ein sehr bemerkenswertes Ereignis ist. Aber ist das deswegen schon ein Wunder Gottes? Israel versteht sich einerseits als jüdischer Staat, ist andererseits aber doch ein profaner Staat wie alle anderen. Dieser westlich geprägte Staat teilt leider auch den moralischen Verfall der westlichen Kulturen. Abtreibungen sind erlaubt, zum Teil sogar auf Kosten der Allgemeinheit, ebenso wie gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Sollte das wirklich der frische Saft in den vormals dürren Zweigen des Feigenbaums sein? Sind das die austreibenden Blätter am Volk der Verheißung?
Werfen wir einen Blick auf den Zusammenhang in Markus 13, so geht es in den beiden unmittelbar vorangehenden Versen 26-27 um die Wiederkunft Jesu. Das dominierende Hauptthema des Kapitels ist jedoch die Zerstörung Jerusalems und es Tempels. Auch in dem auf den Vergleich mit dem Feigenbaum folgenden Vers 30 geht es darum.
Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht.
Die Generation, zu der Jesus gesprochen hat, ist bis zur Zerstörung des Tempels, die 70 n. Chr. geschah, also ca. 40 Jahre nachdem Jesus diese Worte geäußert hatte, war bis zu dieser schrecklichen Katastrophe nicht vergangen.
In Vers 32 spricht Jesus dann über den Zeitpunkt seiner Wiederkunft:
Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.
Da während seines erniedrigten Daseins auf der Erde nicht einmal Jesus den Zeitpunkt seines zweiten Kommens kannte, legt sich nicht nahe, dass er mit den Vorzeichen, die durch das Aufblühen des Feigenbaums gemeint sind, Vorzeichen seiner Wiederkunft gemeint haben könnte. Für den jüdischen Krieg gab es Vorzeichen. Darauf sollten die Jünger achten, um von dieser Katastrophe nicht überrascht zu werden.
Während die Parallele in Matthäus 24,32-36 der Version von Markus entspricht2, gibt es in Lukas 21,29-32 eine etwas andere Formulierung.
29 Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht euch den Feigenbaum und die anderen Bäume an: 30 Sobald ihr merkt, dass sie Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. 31 So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass das Reich Gottes nahe ist. 32 Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis alles geschieht.
Das Reich Gottes ist einerseits mit Jesus schon in die Welt gekommen, andererseits wird es erst bei seinem zweiten Kommen voll verwirklicht werden. Die Zerstörung des Tempels war zugleich das Ende des Opferkultes. Dadurch wurde deutlich sichtbar, dass der Neue Bund, in dem der Alte seine Erfüllung gefunden hat, der Weg ist, auf dem Gott zu finden ist. Es wurde noch klarer, dass das Reich Gottes, das mit Jesus gekommen ist, in der Schar seiner Jünger Wirklichkeit ist. Insofern entspricht auch die lukanische Version der von Markus und Matthäus.
Es ist also nicht unsere Aufgabe, darüber nachzudenken, was der von Jesus genannte Feigenbaum in unserer Zeit sein könnte. Dieser Vergleich war für die Zeitgenossen Jesu wichtig, wobei der Feigenbaum selbst keine besondere Bedeutung hatte. So wie man am Austreiben der Blätter des Feigenbaums das Nahen des Sommers merkt, war an den verschiedenen in Markus 13 und Matthäus 24 genannten Vorzeichen zu erkennen, dass das Gericht über Jerusalem bald kommen würde.
Für uns heute gibt es kein Vorzeichen des Kommens Jesu. Wir sind aufgerufen, ständig wachsam zu sein. Sterben können wir jeden Tag.
Was ich aber euch sage, das sage ich allen:
Seid wachsam! (Markus 13,37)
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Nach dem Schreiben dieses Beitrags wurde mir bekannt, dass die äthiopische Petrus-Apokalypse (2. Jahrhundert?) in Kapitel 2 den Feigenbaum auf Israel bezieht:
1 Um das zu verstehen, nehmt den Feigenbaum als Beispiel. […] 5 Da fragte mich der Lehrer: „Weißt du nicht, daß der Feigenbaum das Haus Israel ist? […] 11 Verstehst du nicht, daß der Feigenbaum das Haus Israel ist? 12 Wahrlich, ich sage dir, in den letzten Tagen, wenn seine Zweige getrieben haben, werden lügnerische Messiasse kommen. 13 Sie werden große Versprechungen machen und sagen: ‚Ich bin der Christus, der in die Welt gekommen ist.‘ 14 Und wenn die Menschen die Bösartigkeit ihrer jeweiligen Werke gesehen haben, werden sie hinter ihnen hergehen und den ersten Christus ableugnen, ihn, den man gekreuzigt hat und dem unsere Väter Lobpreis sagten. 15 Man wird gewaltig sündigen. Der Lügner aber ist nicht Christus. Wenn sich einer ihm widersetzt, wird er ihn mit dem Schwert töten. 16 Es wird viele Märtyrer geben. 17 Dann werden die Zweige des Feigenbaumes, nämlich des Hauses Israel, treiben. 18 Mit eigener Hand wird es Märtyrer schaffen. Viele werden sterben und Märtyrer werden. (äth. Petrus-Apokalypse, 2,1.5.11-18; Quelle: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, ²2015, S.1209-1210)
Im Gegensatz zur heute verbreiteten Erwartung bedeutet das Austreiben der Blätter des Feigenbaums in diesem antiken Text etwas Negatives. Das erstarkte Volk Israel wurde als Feind Gottes und seiner Diener erwartet. ↩ - In der Einheitsübersetzung lautet Matthäus 24,33: So erkennt auch ihr, wenn ihr das alles seht, dass das Ende der Welt nahe ist. Dieser Wortlaut ist jedoch willkürliche Interpretation. Der griechische Text ist derselbe wie bei Markus: … dass er/es nahe vor der Tür ist. ↩