Löwe und Lamm

5 Da sagte einer von den Ältesten zu mir: Weine nicht! Siehe, gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen. 6 Und ich sah: Zwischen dem Thron und den vier Lebewesen und mitten unter den Ältesten stand ein Lamm; es sah aus wie geschlachtet und hatte sieben Hörner und sieben Augen; die Augen sind die sieben Geister Gottes, die über die ganze Erde ausgesandt sind. 7 Das Lamm trat heran und empfing das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. (Offenbarung 5,5-7)

In dieser Vision im Buch der Offenbarung wird uns Jesus in den kontrastreichen Bildern des Löwen und des Lammes vorgestellt.

Vers 5 ist die Antwort, die Johannes empfing, als er weinte, weil niemand für würdig befunden wurde, die mit sieben Siegeln versiegelte Schriftrolle zu öffnen und zu lesen. Der Löwe aus Juda, der Spross aus der Wurzel Davids, hat gesiegt. Vor ihm öffnen sich die Geheimnisse der Geschichte Gottes mit den Menschen. Er ist der Sieger, dem alles untergeordnet ist.

Das Bild des Löwen ist wohl vor dem Hintergrund der Worte des greisen Jakob über seine Söhne und die aus ihnen hervorgegangenen Stämme zu verstehen. In den Worten über Juda heißt es:

9 Ein junger Löwe ist Juda. Vom Raub, mein Sohn, stiegst du auf. Er kauert, liegt da wie ein Löwe, wie eine Löwin. Wer bringt sie zum Aufstehen? 10 Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis Schilo kommt, dem der Gehorsam der Völker gebührt. (Genesis 49,9-10)

Mit dem Löwen ist der ganze Stamm gemeint. Doch in Vers 10 geht es um den, dem der Gehorsam gehört, den „Schilo“. Die genaue Bedeutung von „Schilo“ ist umstritten. Mit geänderter Vokalisierung schälo würde der Versteil lauten: „bis der kommt, dem er (der Herrscherstab) gehört.“ Das würde sich auf den Messias beziehen, dem der Gehorsam der Völker gebührt. Seit David König wurde, hatte der Stamm Juda die Vorherrschaft unter den Stämmen. Das blieb so bis zum Kommen des Messias. Der Messias sollte aus dem Löwen-Stamm Juda hervorgehen. In der Offenbarung wird er schließlich selber der Löwe aus Juda genannt.

Das Bild des Löwen wird im Alten Testament unterschiedlich verwendet. Oft ist es ein Bild für böse und gewalttätige Feinde, wie z. B. in Psalm 22,14:

Aufgesperrt haben sie gegen mich ihren Rachen, wie ein reißender, brüllender Löwe.

Der Prophet Hosea verwendete dieses Bild auch für Gott, einerseits für das Strafgericht in Hosea 5,14:

Denn ich bin für Efraim wie ein Löwe, wie ein junger Löwe für das Haus Juda. Ich bin es, der reißt und weggeht; ich trage fort – und da ist niemand, der mir etwas entreißen kann.

Dieses Strafgericht sollte zur Schuldeinsicht und Gottsuche führen:

Ich gehe weg und kehre an meinen Ort zurück, bis sie sich schuldig fühlen und mein Angesicht suchen. In ihrer Not werden sie wieder nach mir Ausschau halten. (Hosea 5,15)

Andererseits wird das Bild des Löwen auch für den rettenden Gott verwendet, der seinem Volk voranzieht:

9 Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns. 10 Hinter dem HERRN werden sie hergehen. Er brüllt wie ein Löwe, ja, er brüllt und es kommen die Söhne vom Meer zitternd herbei. 11 Wie ein Vogel kommen sie zitternd herbei aus Ägypten, wie Tauben aus dem Land Assur. Ich lasse sie wieder in ihren Häusern wohnen – Spruch des HERRN. (Hosea 11,9-11)

Gott ruft wie ein brüllender Löwe sein Volk zurück aus dem Exil.

Das Bild des Löwen vereinigt den Aspekt des Gewaltigen, Schrecklichen, Starken mit dem Aspekt des Edlen. Der Messias wurde von den Juden als ein mächtiger König erwartet, der die Feinde besiegen würde und so seinem Volk Rettung schenken würde. Zumindest war das ein zentraler Aspekt der Messiaserwartung, die aber unter den Juden keineswegs einheitlich war.

Als der verheißene Messias gekommen ist, war sein Auftreten nicht das eines Löwen. Man könnte eher seine Feinde mit Löwen vergleichen. König Herodes wollte ihn schon im zarten Kindesalter töten lassen (Matthäus 2,1-18).

Später begegnete ihm die Feindschaft der jüdischen Führer, die ihn schon relativ früh töten wollten (vergleiche Markus 3,6). Schließlich wurde Jesus in Zusammenarbeit mit dem römischen Statthalter Pilatus getötet. Wie der Gerechte in Psalm 22 war der Messias in der Gewalt der Löwen.

Der Messias kam nicht als der Löwe aus Juda. Er kam als das Lamm, über das es im Buch Jesaja heißt:

Er wurde bedrängt und misshandelt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt, so tat auch er seinen Mund nicht auf. (Jesaja 53,7)

Als dieses Lamm hat ihn auch Johannes der Täufer verkündet:

Am Tag darauf sah er Jesus auf sich zukommen und sagte: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt! (Johannes 1,29)

Jesus hat die Bosheit der löwengleichen Feinde nicht durch die Macht des noch stärkeren Löwen besiegt. Er hat ihren Hass durch die Demut und Wehrlosigkeit eines Lammes überwunden. Seine Liebe war in seiner Schwäche stärker als der Hass der Welt.

Durch die Auferstehung hat Gott seinen Knecht aus dem Rachen des Löwen (vergleiche Psalm 22,22) entrissen. Das geschlachtete Lamm hat gesiegt.

Wörtlich heißt es in Offenbarung 5,6:

Und ich sah […] ein Lamm stehend wie geschlachtet […]

Ein geschlachtetes Lamm steht nicht. Dieses Lamm steht. Es ist auferstanden und steht, um die Anbetung seines Volkes anzunehmen.

Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre, Lob und Herrlichkeit. (Offenbarung 5,12)

Der Löwe aus Juda ist zum Lamm geworden. Aber er ist immer noch der Löwe. Er ist der Herr über das Universum. Er ist der königliche Richter, vor dem jeder Mensch Rechenschaft über sein Leben ablegen muss.

Wer das Lamm als seinen Retter abweist, wird vor ihm, dem Löwen, als seinem Richter nicht bestehen können.

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