Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm! 2 Da sah ich und siehe, ein weißes Pferd; und der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben und als Sieger zog er aus, um zu siegen. (Offenbarung 6,1-2)
In diesem Beitrag geht es darum, wer oder was mit dem in Vers 2 genannten Reiter auf dem weißen Pferd gemeint ist.
Ich möchte vorausschicken, dass man sich bei der Deutung der Bilder des Buches der Offenbarung immer bewusst sein muss, dass man in gewissem Maß im Unsicheren schwebt, dass man sich mit seiner Deutung manchmal nicht zu 100 % sicher sein kann. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken.
Kapitel 6 setzt Kapitel 5 fort, wo das Lamm, der getötete und auferstandene Gottessohn, für würdig befunden wurde, die sieben Siegel einer Schriftrolle zu öffnen. In Kapitel 6,1-8 geht es um das Öffnen der ersten vier Siegel. Immer, wenn das Lamm ein Siegel öffnet, erscheint ein Pferd mit einem Reiter auf der Bildfläche. Während die Deutung der letzten drei Reiter im Großen und Ganzen einigermaßen klar ist, wurde der erste Reiter im Laufe der Geschichte ziemlich unterschiedlich interpretiert.
Der zweite Reiter auf dem feuerroten Pferd (Offenbarung 6,3-4) steht für Krieg und all die Todesopfer, die er fordert. Der dritte Reiter auf dem schwarzen Pferd (Offenbarung 6,5-6) steht für Teuerung und Hunger. Der vierte Reiter auf dem fahlen Pferd (Offenbarung 6,7-8a) steht für den Tod – vermutlich durch Seuchen. In 6,8b wird der Schaden, der durch die drei letzten Reiter angerichtet wird, zusammengefasst, ergänzt noch durch die Tiere der Erde. Diese Auflistung von Strafen findet man schon im Alten Testament, z. B. in Ezechiel 14,21:
Wahrhaftig, so spricht GOTT, der Herr: Selbst wenn ich meine vier bösen Strafen, Schwert, Hunger, wilde Tiere und Pest, über Jerusalem bringe, um Mensch und Tier aus ihr auszumerzen, […]
Bei den letzten drei Reitern werden also die schon im Alten Testament genannten typischen Strafgerichte aufgegriffen und aktualisiert, möglicherweise vor dem Hintergrund der nach dem Tod Neros in Rom ausgebrochenen Unruhen und Kämpfen zwischen den verschiedenen Anwärtern auf den Kaiserthron.
Doch was ist mit dem ersten Reiter auf dem weißen Pferd? Neuere Erklärer sehen diesen ersten Reiter negativ in einer Reihe mit dem auf ihn folgenden drei Reitern. So heißt es in der Fußnote der Einheitsübersetzung 2016 dazu:
Die vier Reiter (vgl. Sach 1,7-15; 6,1-8) sind bildhafte Hinweise auf die sogenannten Messianischen Wehen: Völkerkrieg, Bürgerkrieg, Teuerung und Hungersnot, Pest und Massensterben.
Ich verstehe das so, dass dem ersten Reiter der Völkerkrieg zugeordnet wurde, dem zweiten der Bürgerkrieg.
Die Jerusalemer Bibel (1968) schreibt:
Der Reiter auf dem weißen Roß (Sinnbild des Sieges) bezeichnet die Parther; sie sind zu erkennen am Bogen, ihrer Hauptwaffe, und waren der Schrecken der römischen Welt im 1. Jahrhundert. Sie sind die „wilden Tiere der Erde“ von V. 8 (d. h. die Eroberervölker, vgl. Dt 7,22; Ez 34,28; Jr 15,2-4; 50,17). Der Einfall der Parther wird in der Vision von 9,13f beschrieben. Ein bedeutender Teil der Überlieferung hat in der Person dieses weißen Reiters nach 19,11-16 Christus gesehen.
Diese Deutung konkretisiert die Erklärung der Einheitsübersetzung durch den Bezug auf ein spezifisches Volk, die Parther. Es gibt hier aber einige Probleme. Warum sollten die „wilden Tiere der Erde“, die in Vers 8 am Schluss stehen, sich auf den ersten Reiter beziehen? In den vier genannten alttestamentlichen Stellen stehen nur in Jeremia 50,17 die Tiere für Völker. Überdies scheint es zwischen 63 und 114 keine größeren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Römern und den Parthern gegeben zu haben. Allerdings dürfte in 9,13f tatsächlich ein Zusammenhang mit den Parthern vorliegen.
Andere Erklärungen, die den ersten Reiter negativ sehen, beziehen diesen auf den Antichristen oder auf falsche Messiasse.
Wie bereits im Kommentar der Jerusalemer Bibel angedeutet, gibt es eine Tradition, die den Reiter positiv sieht. Schon im 2. Jahrhundert hat Irenäus (Gegen die Häresien 4,21,3) den Reiter auf Jesus bezogen, aber ohne das näher zu begründen.
In Offenbarung 19,11-16 ist mit dem Reiter auf einem weißen Pferd eindeutig Jesus gemeint.
11 Dann sah ich den Himmel offen und siehe, da war ein weißes Pferd und der, der auf ihm saß, heißt: Der Treue und Wahrhaftige; gerecht richtet er und führt er Krieg. 12 Seine Augen waren wie Feuerflammen und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name geschrieben, den er allein kennt. 13 Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt: Das Wort Gottes. 14 Die Heere des Himmels folgten ihm auf weißen Pferden; sie waren in reines, weißes Leinen gekleidet. 15 Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; mit ihm wird er die Völker schlagen. Und er weidet sie mit eisernem Zepter und er tritt die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung. 16 Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen geschrieben: König der Könige und Herr der Herren.
Der Name „Wort Gottes“ weist in Verbindung mit Johannes 1,1.14 eindeutig auf Jesus hin. Doch kann die Deutung des Reiters von Kapitel 19 so einfach auf Kapitel 6 übertragen werden? Kommt es da nicht zu einer „Doppelung“ von Jesus, wenn in Vers 1 Jesus als das Lamm das Siegel öffnet, um anschließend in Vers 2 als der Reiter auf dem weißen Pferd in Erscheinung zu treten? Man könnte sagen, dass eine Vision nicht immer den Gesetzen der Logik folgen muss. Immerhin ist in Kapitel 5 Jesus sowohl der Löwe als auch das Lamm. Ein anderes Argument, das genannt wurde, lautet, dass 6,1 im Himmel spielt, 6,2 aber im irdischen Bereich.
In Kapitel 19 geht es um den endzeitlichen Sieg Christi. Er kommt nicht allein. Es folgen ihm die Heere des Himmels ebenfalls auf weißen Pferden. Er kommt als der Richter. Im Kapitel 6 geht es nicht um das letzte Gericht. Dem Reiter auf dem weißen Pferd folgen nicht die himmlischen Heerscharen, sondern irdische Plagen, die zwar als Strafgerichte über die Sünden auch im Willen Gottes sind, aber noch nicht das letzte Gericht darstellen. Die Situation in den beiden Kapiteln ist unterschiedlich, was darauf hinweisen könnte, dass die Reiter in beiden Kapiteln nicht identisch sein müssen.
Eine andere Möglichkeit wäre, den ersten Reiter nicht auf Jesus direkt zu beziehen, sondern auf die Verkündigung des Evangeliums, wie es Andreas von Caesarea um 610 auch tat1.
Für eine positive Konnotation des ersten Reiters spricht auch seine Beschreibung. Der Siegeskranz (στέφανος / stéphanos) wird abgesehen von den Stellen, wo es die Dornenkrone auf dem Haupt Jesu meint und der rätselhaften Beschreibung der Heuschrecken in Offenbarung 9,7 ausschließlich im positiven Sinn verwendet. Dasselbe ist der Fall mit dem in 6,2 zweimal verwendeten Wort „siegen“ (νικάω / nikáō). Nur in 11,7 und 13,7 wird es für den vorübergehenden Sieg gottfeindlicher Mächte gebraucht. Die in 6,2 verwendete Partizipform νικῶν / nikōn (in der Einheitsübersetzung mit „Sieger“ wiedergegeben) hat nur positive Bedeutung.
Der Bogen (τόξον / tóxon) kommt im Neuen Testament nur an dieser Stelle vor. Er könnte sowohl im positiven als auch im negativen Sinn verwendet werden. Es scheint mir aber gewagt, aus der bloßen Nennung des Bogens auf die Parther zu schließen. Im Alten Testament findet man den Bogen oft in der Hand der Feinde. Doch heißt es im messianischen Psalm 45 ohne Nennung des Bogens:
Deine Pfeile sind scharf, unter dir fallen Völker; ins Herz getroffen sind die Feinde des Königs. (Psalm 45,6)
Die Pfeile setzen einen Bogen voraus. Der Psalmist hat sich den Messias mit einem Bogen in der Hand vorgestellt.
Interessant ist auch, dass es in 6,4 heißt:
Da erschien ein anderes Pferd; das war feuerrot.
Bei der Einführung der folgenden Pferde steht nicht, dass es sich um andere Pferde handelt. Das könnte auch in die Richtung weisen, dass das erste Pferd mit seinem Reiter eine wesensmäßig andere Funktion hat als die restlichen drei Pferde.
Auch dass in 6,8 keine Entsprechung zum ersten Reiter zu finden ist, sollte man bedenken. Dass sich, wie von der Jerusalemer Bibel vorgeschlagen, die durch die wilden Tiere versinnbildlichten Völker auf den ersten Reiter beziehen, scheint mir nicht wirklich zu passen.
Es gibt also gute Gründe, den ersten Reiter positiv zu sehen. Ich würde ihn aber nicht auf Jesus direkt deuten, sondern eher auf den Siegeszug des Evangeliums, über den Paulus schreibt:
Dank sei Gott, der uns stets im Triumphzug Christi mitführt und durch uns den Geruch seiner Erkenntnis an allen Orten verbreitet! (2 Korinther 2,14)
Bei denen, die das Evangelium ablehnen, hat das negative Konsequenzen. Menschen, die die Liebe Gottes ablehnen, haben auch die schützende Nähe Gottes verworfen. Krieg, Hunger, Tod sind die Folgen. (Das heißt aber nicht, dass eine lange Periode äußeren Friedens und materiellen Wohlstands bedeutet, dass alles in Ordnung ist.) Der Egoismus der Menschen bleibt nicht ohne Folgen.
4 Denn alles, was aus Gott gezeugt ist, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. 5 Wer sonst besiegt die Welt, außer dem, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist?
(1 Johannes 5,4-5)
- „Wir aber haben die Lösung des ersten Siegels so aufgefaßt, dabei sei an das Geschlecht der Apostel zu denken. Diese nämlich richten den Bogen der Verkündigung des Evangeliums gegen die Dämonen, und sie führen diese Christus zu, nachdem sie mit den rettungsbringenden Pfeilen verwundet worden sind. Und die Apostel haben dafür Kronen empfangen. Denn statt durch Pfeile haben sie den Urheber der Täuschung mit der Wahrheit besiegt in der Hoffnung auf einen zweiten Sieg, da sie sich bis zum gewaltsamen Tod zum Namen des Herrn bekennen. (Heiliger Andreas von Caesarea, Kommentar zur Apokalypse des Johannes, Wachtendonk 2014, S.50-51). ↩