Gottes Gerechtigkeit kann die Sünden von Menschen nicht einfach ungestraft hingehen lassen. Gott muss sie bestrafen, sonst wäre Er nicht gerecht.
Dieses Zitat stammt aus einem evangelikalen Artikel über die Gerechtigkeit Gottes. Es ist hier nicht so wichtig, wer der Autor ist und welche Gruppierung das veröffentlicht hat. Ähnliche Aussagen hört und liest man immer wieder. Es geht mir nicht darum, gegen eine konkrete Gemeinschaft zu schreiben, sondern auf ein Problem hinzuweisen, das mit dieser weitverbreiteten Denkweise verbunden ist.
Nehmen wir diese Aussage ernst, kommen wir zur Schlussfolgerung, dass Gottes Gerechtigkeit ihn zum Strafen zwingt, er in Konsequenz daher auch nicht vergeben könne. Vielleicht hat das der Autor dieses Textes in dieser Konsequenz nicht gemeint. Aber für ihn lässt Gottes Gerechtigkeit als einzig mögliche Reaktion Gottes nur die Strafe offen. Da Gott in seiner großen Liebe uns vor der ewigen Strafe bewahren will, habe er statt uns seinen Sohn bestraft. So werde der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan und Vergebung ermöglicht. Aber ohne Bestrafung könne es bei einem gerechten Gott keine Vergebung geben.
Dass Gott Sünde nicht ungestraft lässt, steht auch in der Bibel und ist ernst zu nehmen. Im Rahmen der zehn Gebote heißt es:
5 Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen; 6 doch ich erweise Tausenden meine Huld bei denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren. 7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht. (Exodus 20,5-7)
Bei denen, die Gott hassen, sucht er die Schuld heim, sogar bis in die vierte Generation.1 Doch denen, die ihn lieben und seine Gebote bewahren, erweist Gott seine Huld. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen sündenfrei wären, aber in ihrem Leben bewahren sie die Treue zu Gott und seinen Geboten. Die Gerechtigkeit Gottes zwingt ihn nicht dazu, jede Sünde bestrafen zu müssen. Gott sieht unser Herz. Er sieht, ob wir ihn lieben und seinen Willen tun wollen.
Wenn wir unsere Sünde bereuen und Gott uns vergibt, ist er deswegen nicht ungerecht, sondern er zeigt uns seine Liebe.
18 Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie geben, an Brandopfern hast du kein Gefallen. 19 Schlachtopfer für Gott ist ein zerbrochener Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen. (Psalm 51,18-19)
Preise den HERRN, meine Seele, und alles in mir seinen heiligen Namen! 2 Preise den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! 3 Der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, […] 8 Der HERR ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld. 9 Er wird nicht immer rechten und nicht ewig trägt er nach. 10 Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Schuld. 11 Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so mächtig ist seine Huld über denen, die ihn fürchten. 12 So weit der Aufgang entfernt ist vom Untergang, so weit entfernt er von uns unsere Frevel. 13 Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über alle, die ihn fürchten. (Psalm 103,1-3.8-13)
Diese freie Vergebung, die Gott schenkt, steht nicht in Spannung zu seiner Gerechtigkeit, sondern kommt aus ihr. So heißt es später in Psalm 103:
17 Doch die Huld des HERRN währt immer und ewig für alle, die ihn fürchten. Seine Gerechtigkeit erfahren noch Kinder und Enkel, 18 alle, die seinen Bund bewahren, die seiner Befehle gedenken und danach handeln. (Psalm 103,17-18)
In Vers 17 steht die Gerechtigkeit des HERRN in Parallele zu seiner Huld und Gnade.
In Daniel 9,16 steht „Gerechtigkeit“ geradezu dafür, dass Gott seinen strafenden Zorn von Jerusalem abwendet:
Herr, nach all ⟨den Taten⟩ deiner Gerechtigkeit mögen doch dein Zorn und deine Erregung sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, dem Berg deines Heiligtums! (Daniel 9,16a – Elberfelder)
Die Einheitsübersetzung ersetzt hier das hebräische Wort für Gerechtigkeit sinngemäß richtig mit „Heil“:
Herr, gemäß all deinen Heilstaten möge sich doch dein Zorn und deine Wut abwenden von deiner Stadt Jerusalem, von deinem heiligen Berg. (Daniel 9,16a – Einheitsübersetzung)
In Jesaja 46,13 steht „Gerechtigkeit“ in Parallele zur „Rettung“:
Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht, sie ist nicht mehr fern und meine Rettung verzögert sich nicht. Ich schaffe Rettung in Zion und verleihe Israel meine strahlende Pracht.
Weil Gott gerecht ist, rettet er sein Volk und lässt ab vom Strafgericht.
Gerechtigkeit und Liebe sind keine Gegensätze in Gott, sondern sind untrennbar miteinander verbunden. Weil Gott uns liebt, schenkt er uns seine Gerechtigkeit, macht er uns gerecht.
Jesus ist nicht deswegen gekommen, dass er statt uns bestraft wird und so den Zorn Gottes besänftigt. Er war auch in seinem Leiden immer untrennbar mit seinem Vater verbunden. Er war nicht von Gott verlassen. Auch wenn er den Menschen wie ein Verfluchter erschien, war er doch nicht von Gott verflucht.2
Jesus ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist (vergleiche Lukas 19,10). Wenn wir auf seine Stimme hören, rettet er uns. So erweist er an uns seine Gerechtigkeit und macht uns zu gerechten Menschen.
Jesus hat immer wieder davon gesprochen, wie wichtig es ist, dass wir vergeben – ohne Gegenleistung.
12 Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben! […] 14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matthäus 6,12.14-15)
21 Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er gegen mich sündigt? Bis zu siebenmal? 22 Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal. (Matthäus 18,21-22 – im Zusammenhang mit dem darauf folgenden Gleichnis Matthäus 18,23-35)
Wenn Gott von uns richtigerweise erwartet, dass wir frei, ohne Gegenleistung vergeben, sollten wir dann denken, dass Gott nicht kann, was er von uns erwartet?
Zeigt uns Jesus nicht gerade im Gleichnis vom König, der seinen Knechten frei vergibt, dass Gott die Vergebung, die er von uns unseren Schuldnern gegenüber erwartet, uns in viel größerem Ausmaß schenken will, ohne dass jemand statt uns diese Schuld bezahlt?
Der Herr des Knechtes hatte Mitleid, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld. (Matthäus 18,27)
Gerade die Größe seiner Vergebung will uns motivieren, auch aus ganzem Herzen zu vergeben.
Wir dürfen Jesus unendlich dankbar dafür sein, dass er sich während seines ganzen Lebens und auch in seinem Sterben ganz hingegeben hat. Seine Liebe, die er uns dadurch geschenkt hat, ist unser Leben. Doch bedeutet das nicht, dass Gott sein Blut fließen sehen musste, um vergeben zu können.
18 Wer ist Gott wie du, der Schuld verzeiht und an der Verfehlung vorübergeht für den Rest seines Erbteils! Nicht hält er auf ewig fest an seinem Zorn, denn er hat Wohlgefallen daran, gütig zu sein. 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, er wird niedertreten unsere Schuld. Ja, du wirst in die Tiefen des Meeres werfen alle ihre Sünden.
(Micha 7,18-19)Ich, ich bin es, der deine Vergehen wegwischt um meinetwillen, deiner Sünden gedenke ich nicht mehr. (Jesaja 43,25)
- Nach meinem Verständnis bedeutet das nicht, dass bis in die vierte Generation ein Fluch über die Nachkommen der Sünder liegt, sondern dass wenn ein Strafgericht (durch Feinde oder eine Naturkatastrophe, eine Hungersnot) über das Volk Israel kam, nicht nur die Sünder, sondern alle zur Zeit dieses Gerichts lebenden Nachkommen darunter zu leiden hatten. Man soll auch den Einfluss, den Eltern auf ihre Nachkommen haben, nicht vergessen. ↩
- Näheres dazu in den jeweils verlinkten Beiträgen. ↩