Und dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden – zum Zeugnis für alle Völker; dann erst kommt das Ende. (Matthäus 24,14)
Durch dieses Wort Jesu fühlen sich verschiedene Gruppierungen in ihrer Annahme bestätigt, dass die Wiederkunft Jesu nahe bevorsteht oder, wie es die Zeugen Jehovas, nach deren Lehre Jesus seit 1914 unsichtbar gegenwärtig ist, ausdrücken, das Ende des „Systems der Dinge“ vor der Tür steht.
Doch hat Jesus darüber gesprochen?
Betrachten wir zuerst den Zusammenhang dieser Worte.
Den Ausgangspunkt der „Endzeitrede“ beschreibt Matthäus so:
1 Als Jesus den Tempel verlassen hatte, wandten sich seine Jünger an ihn und wiesen ihn auf die Bauten des Tempels hin. 2 Er antwortete und sagte zu ihnen: Seht ihr das alles? Amen, ich sage euch: Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben, der nicht niedergerissen wird. 3 Als er auf dem Ölberg saß, wandten sich die Jünger, die mit ihm allein waren, an ihn und fragten: Sag uns, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen für deine Ankunft und das Ende der Welt? (Matthäus 24,1-3)
Bei Markus lautet die Frage der Apostel etwas anders:
3 Und als er auf dem Ölberg saß, dem Tempel gegenüber, fragten ihn Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas, die mit ihm allein waren: 4 Sag uns, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies alles sich vollenden soll? (Markus 13,3-4)
Es muss für die Jünger ein Schock gewesen sein, dass Jesus von der Zerstörung des Tempels, dem Mittelpunkt des jüdischen Gottesdienstes, gesprochen hat. So wollten sie von Jesus mehr darüber erfahren. Wenn in Matthäus 24,3 von „Ende der Welt“ die Rede ist, so ist das eine ungenaue Wiedergabe. Die Elberfelder Bibel ist mit der Formulierung „Vollendung des Zeitalters“ näher am griechischen Text συντελεία τοῦ αἰῶνος / synteleía tū aiōnos. Die Zerstörung des Tempels bedeutete für die Jünger das Ende eines Zeitalters, aber nicht das Ende der Welt.
Jesus hat in dieser Rede nicht nur vom Ende des Tempels gesprochen, sondern er hat auch einen Ausblick auf sein Kommen am Ende der Zeiten gegeben. Im Zentrum stand aber das Gericht über Jerusalem und den Tempel, das für die Jünger aufgrund der zeitlichen Nähe viel bedeutsamer war. Dieses Gericht sollte noch innerhalb ihrer Generation geschehen.
Auch wenn die in Matthäus 24,4-12 genannten Zeichen häufig auf unsere Zeit bezogen werden, passen sie doch gut in die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems. Das erste Wort Jesu lautete:
Gebt Acht, dass euch niemand irreführt!
Da hat er ganz konkret seine damaligen Jünger angesprochen. Sie sollten der Verführung durch falsche Propheten und Messiasse klar widerstehen. Auch die anderen Zeichen gab es damals.
In Vers 15 geht es um einen Gräuel im Tempel. In den Versen 16-20 ist die Situation in Jerusalem das Thema.
Wenn der Zusammenhang die Zerstörung des Tempels ist, warum soll es dann in Vers 14 um das Ende der Welt gehen? Von der Wiederkunft Jesu ist erst später, in Vers 30, die Rede.
Wenn wir Vers 14 näher betrachten, dann lautet der Text etwas anders als in der Version der Einheitsübersetzung. Im Griechischen ist nicht von der ganzen „Welt“ die Rede, sondern von der ganzen οἰκουμένη / oikuménē. Da sind die Zeugen Jehovas mit der Wiedergabe „auf der ganzen bewohnten Erde“ näher am Urtext. Dieses Wort meinte die zivilisierte Erde, vor allem das Römische Reich.
Dieses Wort steht z. B. in Lukas 2,1:
Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen.
Das ging nur in den von Augustus beherrschten Gebieten. Die Inder und Chinesen war von seinem Befehl nicht betroffen.
Die in Apostelgeschichte 11,28 erwähnte große Hungersnot, die über „die ganze Erde“ kommen sollte, betraf nicht den ganzen Globus.
Auch in Römer 10,18 hat Paulus das Wort oikuménē verwendet:
Aber, so frage ich: Haben sie etwa nicht gehört? Ja doch: In die ganze Welt ist ihr Schall gedrungen und bis an die Enden der Erde ihre Worte.
Paulus hatte offensichtlich kein Problem damit, Psalm 19,5 nach der Septuaginta auf seine Zeit zu beziehen, obwohl ihm klar war, dass im Jahre 57, als er den Römerbrief schrieb, noch nicht einmal in allen Gebieten des Römischen Reichs das Evangelium verkündet worden war.
Paulus hat auch das Wort κόσμος / kósmos („Welt“) in einem geografisch eingeschränkten Sinn verwendet. Außer in Römer 10,18 auch in diesen Stellen:
Zunächst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, weil euer Glaube in der ganzen Welt bekannt gemacht wird. (Römer 1,8)
Schon früher habt ihr davon gehört durch das wahre Wort des Evangeliums, 6 das bei euch anwesend ist. Wie in der ganzen Welt, so trägt es auch bei euch Frucht und wächst seit dem Tag, an dem ihr den Ruf der göttlichen Gnade vernommen und in Wahrheit erkannt habt. (Kolosser 1,5b-6)
In Kolosser 1,23 spricht er sogar von der ganzen Schöpfung.
Doch müsst ihr im Glauben bleiben, fest und in ihm verwurzelt, und ihr dürft euch nicht von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt, abbringen lassen. In der ganzen Schöpfung unter dem Himmel wurde es verkündet und ich, Paulus, bin sein Diener geworden.
Wir können davon ausgehen, dass vor der Zerstörung Jerusalems überall im Römischen Reich, wo Juden lebten, das Evangelium verkündet worden war, sodass diese vor dem Strafgericht eine Möglichkeit zur Umkehr erhalten hatten.
Wenn es um die Juden ging, was bedeuten dann die Worte „zum Zeugnis für alle Völker“?
Eine ähnliche Formulierung finden wir auch in Matthäus 10,18:
17 Nehmt euch aber vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch an die Gerichte ausliefern und in ihren Synagogen auspeitschen. 18 Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt werden, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. (Matthäus 10,17-18)
In Vers 17 geht es eindeutig um Verfolgung durch Juden, da von den Synagogen die Rede ist. Am Beispiel von Paulus sehen wir, dass die Verfolgung durch Juden auch dazu geführt hat, dass Christen von Statthalter und Könige geführt wurden. So hatte der Dienst an den Juden auch Auswirkungen auf die Heiden.
Die Mission unter Heiden war in den allermeisten Fällen zuerst eine Mission unter Juden. Die Apostel gingen in einer neuen Stadt zuerst in die Synagoge, wo zuerst den Juden das Evangelium verkündet wurde. Dort gab es oft auch interessierte Nichtjuden, die dadurch auch die Botschaft Jesu gehört haben. Insofern war die Verkündigung unter den Juden auch ein Zeugnis für die Heiden. Die immer wieder unter Juden erfahrene Ablehnung hat den Weg zu den Heiden geöffnet. So war die Verkündigung vor den Heiden in der Anfangszeit immer mit der Mission unter Juden verbunden.
In Markus 13 steht Vers 10, der die Parallele zu Matthäus 24,14 bildet im Zusammenhang mit Versen, die in Parallele zu Matthäus 10,17-18 sind.
9 Ihr aber, gebt Acht auf euch selbst: Man wird euch um meinetwillen an die Gerichte ausliefern, in den Synagogen misshandeln und vor Statthalter und Könige stellen – ihnen zum Zeugnis. 10 Allen Völkern muss zuerst das Evangelium verkündet werden. (Markus 13,9-10)
Auch dieser Zusammenhang bestätigt die Verbindung zwischen Verfolgung durch Juden mit der Verkündigung unter nichtjüdischen Völkern.
Matthäus 24,14 ist im Zusammenhang mit der Ankündigung der Tempelzerstörung verständlich und kann nicht als ein Hinweis auf ein baldiges Ende der Welt verstanden werden.
Jesus hat davor gewarnt, wissen zu wollen, wann das Ende kommt.
Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. (Apostelgeschichte 1,7)
Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.
(Matthäus 24,36)