7 Damit ich mich wegen der einzigartigen Offenbarungen nicht überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. 9 Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollendet. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. (2 Korinther 12,7-9)
Am Beginn des Kapitels schrieb Paulus über Offenbarungen und Erscheinungen, derer er gewürdigt worden war. Paulus war sich der Gefahr bewusst, die diese großartigen Erfahrungen für ihn bedeuten konnten. Deshalb hat er etwas sehr Negatives und Schmerzhaftes, das ihm widerfahren ist als Züchtigung gesehen, die ihn davor bewahren sollte, sich zu überheben. In Vers 7 schreibt er zweimal: damit ich mich nicht überhebe. Paulus lebte in dem Bewusstsein, dass die großen Gaben, die er empfangen hatte, auch zu Stolz führen konnten. Er wusste, dass er seinem Herrn in einem Leben in Demut dienen sollte, so wie es Jesus selber vorgelebt hatte.
Was war dieser „Stachel im Fleisch“? Paulus sprach von einem „Boten (oder Engel) Satans“, der ihn mit Fesseln schlagen sollte. Wie kann es sein, dass Satan durch einen seiner Engel einen Apostel Jesu schlagen konnte? Hat Satan Einfluss auf den körperlichen Zustand von Menschen und insbesondere von Dienern Christi?
Johannes Chrysostomus lehnte es ab, dabei an ein körperliches Gebrechen wie Kopfschmerz zu denken, weil es nicht sein konnte, dass der Leib des Paulus den Händen des Teufels preisgegeben sei. Ausgehend von der Deutung des Wortes „Satan“ als Widersacher nahm er an, dass es um Widersacher ging, die die Verkündigung des Paulus störten und ihn angriffen.
Somit will also Paulus sagen: Gott gewährte der Predigt nicht ungestörten Erfolg, um keinen Stolz in uns aufkommen zu lassen; er gestattete vielmehr den Widersachern, uns anzugreifen. Denn Solches war geeignet, jeden stolzen Gedanken zu unterdrücken, aber nicht auch war ein Übel wie der Kopfschmerz geeignet. (Johannes Chrysostomus, Homilien über den zweiten Brief an die Korinther, 26,2)
Ein Vorschlag, der in eine ähnliche Richtung weist, wird in der Jerusalemer Bibel als Möglichkeit erwähnt:
Vielleicht der Widerstand Israels, seiner Brüder dem Fleische nach, gegen den christlichen Glauben.
Bei diesen beiden Erklärungen stellt sich aber die Frage, was daran besonders sei. Jesus hatte in Matthäus 10,16 seine Jünger wie Schafe unter die Wölfe gesandt. Paulus schrieb an Timotheus:
Aber auch alle, die in der Gemeinschaft mit Christus Jesus ein frommes Leben führen wollen, werden verfolgt werden. (2 Timotheus 3,12)
Auch die Ablehnung durch das Volk Israel wurde von Jesus angekündigt, wenn er sagte:
Nehmt euch aber vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch an die Gerichte ausliefern und in ihren Synagogen auspeitschen. (Matthäus 10,17)
Paulus selbst hat die Verfolgung der Gemeinde durch die Führer Israels von Anfang an miterlebt. Er war ja vor seiner Bekehrung selber ein Verfolger.
Ablehnung und Verfolgung waren die ständige Erfahrung nicht nur von Paulus, sondern aller, die Jesus als den Herrn verkündeten. Hier ging es aber um etwas Spezifisches. Paulus hat dreimal darum gebetet, dass dieser Bote Satans von ihm ablasse. Man sollte deswegen die Erklärung durch ein körperliches Gebrechen nicht von vornherein ausschließen.
So schreibt auch die Jerusalemer Bibel in ihrer alternativen Erklärung:
Vielleicht eine Krankheit mit schweren, plötzlich auftretenden Anfällen.
Wurde hier an Epilepsie gedacht, wie manchmal ohne stichhaltigen Grund angenommen wird?
Es gibt auch den Vorschlag eines Augenleidens. Zu einer Zeit, als es noch keine Brillen gab, konnte eine eingeschränkte Sicht schon sehr hinderlich sein. Als Hinweise darauf werden folgende Bibelstellen angeführt:
Wo also ist eure Seligpreisung? Ich bezeuge euch: Wäre es möglich gewesen, ihr hättet euch die Augen ausgerissen, um sie mir zu geben. (Galater 4,15)
Seht, mit welch großen Buchstaben ich euch schreibe, mit eigener Hand. (Galater 6,11)
Paulus antwortete: Ich wusste nicht, Brüder, dass er der Hohepriester ist. (Apostelgeschichte 23,5a)
Galater 4,15 könnte man so verstehen, dass Paulus schlecht gesehen hat und dass die Galater sogar bereit gewesen wären, ihm ihre Augen zu geben. Man kann es aber auch allgemeiner verstehen. Die Augen gehören zum Kostbarsten des Menschen. Sogar das wären die Galater bereit gewesen, Paulus zu geben.
Wenn jemand mit „großen Buchstaben“ schreibt, muss das nicht heißen, dass er schlecht sieht. Es kann sein persönlicher Schreibstil sein. Klaus Berger versteht Galater 6,11 so, dass Paulus „schwerfällig“ geschrieben habe. Das könnte auch auf ein Problem mit der Hand hinweisen. Es gibt auch eine Erklärung, dass die „großen“ Buchstaben darauf hinweisen sollen, dass etwas sehr wichtig ist. Das Wort πηλίκος / pēlíkos kommt im Neuen Testament sonst nur in Hebräer 7,4 vor, wo es um die Größe Melchisedeks geht, dem Abraham den Zehnten gegeben hat. Da ist gewiss nicht an die Körpergröße gedacht. Galater 6,11 setzt also nicht notwendigerweise ein Augenleiden voraus.
Auch Apostelgeschichte 23,5, wo Paulus zuvor den Hohepriester Hananias geschmäht hatte, muss man nicht so verstehen, dass Paulus aufgrund schlechter Augen nicht gesehen hätte, dass der Mann, der befohlen hatte, ihn zu schlagen, der Hohepriester war. Der Hohepriester trug bei dieser Verhandlung nicht seine Festkleidung. So konnte Paulus, der ihn persönlich nicht kannte, nicht wissen, dass dieser Mann der Hohepriester war.
Außerdem stellt sich bei einem Augenleiden die Frage, warum Paulus von einem „Boten Satan“ schrieb. Hätte dann Gott tatsächlich dem Satan die Vollmacht gegeben, Paulus körperlich zu schaden?
Ein weiterer Vorschlag wäre der von Chrysostomus verworfene Gedanke, dass es sich um Kopfschmerzen handeln könnte. Allerdings nicht um Kopfschmerzen, wie sie aus den verschiedensten Gründen bei anderen Menschen immer wieder vorkommen.
In Apostelgeschichte 14,19-20 heißt es im Rahmen des Berichtes über den Aufenthalt von Paulus in Lystra:
19 Von Antiochia und Ikonion aber kamen Juden und überredeten die Volksmenge. Und sie steinigten den Paulus und schleiften ihn zur Stadt hinaus, in der Meinung, er sei tot. 20 Als aber die Jünger ihn umringten, stand er auf und ging in die Stadt. Am anderen Tag zog er mit Barnabas nach Derbe weiter.
Paulus wurde gesteinigt und für tot gehalten. Er hat die Steinigung überlebt und machte sich bereits am folgenden Tag auf den Weg nach Derbe. Der Weg nach Derbe war ca. 100 km lang. Wir müssen damit rechnen, dass Paulus bei der Steinigung eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Da hätte er anschließend viel Ruhe gebraucht. Die lange Reise nach Derbe hat ihm da nicht gutgetan. Da ist zu erwarten, dass er später immer wieder heftige Kopfschmerzen hatte. Diese waren letztlich von Gegnern Christi, die Paulus töten wollten, verursacht worden. Da ist es durchaus angebracht, von Boten Satans zu sprechen. Freilich nennt Paulus die direkten Schläge als von den Boten Satans kommend. Es mag für Paulus nicht leicht gewesen sein, dass er vielleicht gerade, als er das Evangelium verkündigte, von starken Kopfschmerzen geplagt wurde. Er konnte es als satanischen Versuch sehen, ihn bei seiner Arbeit im Reich Gottes zu behindern. Auch wenn die konkrete Situation nicht vom Satan verursacht war, so hatte doch sein grundsätzliches gesundheitliches Angeschlagensein ihren Grund in den Angriffen der Diener Satans, die Paulus gesteinigt hatten. Vielleicht können wir keine absolute Gewissheit haben, was Paulus mit dem Stachel im Fleisch gemeint hat. Mir erscheint die letztgenannte Erklärung plausibler zu sein als die anderen.
Paulus hat den Herrn dreimal in dieser Sache angefleht. Das erinnert an das dreimalige Gebet Jesu vor seinem Leiden, den Kelch von ihm wegzunehmen. So wie Jesus hat auch Paulus in den Willen Gottes angenommen. Er hat vom Herrn verstanden, dass sich gerade in seiner Schwachheit Gottes Kraft zeigt und vollendet wird. Er hat erfahren, dass der Herr es ist, der in ihm wirkt, dass er, wenn er an seine Grenzen gestoßen ist, im Vertrauen auf Gott trotz seiner Einschränkungen den Dienst an Gott und den Menschen vollbringen konnte. Gott war stärker als der Bote Satans, auch wenn Paulus die Schläge dieses Boten nach wie vor verspürte. Aber Gottes Kraft kam auf ihn herab und so war er in seiner Schwachheit stark.
Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. (2 Korinther 12,10)