Paulus und der Hohepriester Hananias

1 Paulus schaute mit festem Blick auf den Hohen Rat und sagte: Brüder! Bis zum heutigen Tag lebe ich vor Gott mit völlig reinem Gewissen. 2 Der Hohepriester Hananias aber befahl denen, die bei ihm standen, ihn auf den Mund zu schlagen. 3 Da sagte Paulus zu ihm: Dich wird Gott schlagen, du getünchte Wand! Du sitzt hier, um mich nach dem Gesetz zu richten, und entgegen dem Gesetz befiehlst du, mich zu schlagen? 4 Die Umstehenden sagten: Du wagst es, den Hohepriester Gottes zu schmähen? 5 Paulus antwortete: Ich wusste nicht, Brüder, dass er der Hohepriester ist. Denn es heißt in der Schrift: Einen Fürsten deines Volkes sollst du nicht verfluchen. (Apostelgeschichte 23,1-5)

Diese Szene spielte sich am Tag nach der Verhaftung von Paulus im Frühjahr 57 in Jerusalem ab. Paulus war vom römischen Oberst vor den Hohen Rat gebracht worden, um die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe in Erfahrung zu bringen.

Beim Lesen des Textes stellen sich im Hinblick auf das Verhalten von Paulus mehrere Fragen. Warum hat er den Hohepriester mit so scharfen Worten kritisiert? War das richtig, da er doch anschließend einen Rückzieher gemacht hat? Hat Paulus den Hohepriester tatsächlich nicht gekannt?

Es ist festzuhalten, dass das Verhalten von Hananias keinesfalls korrekt war. Paulus bereits nach dem ersten Satz seiner Verteidigungsrede schlagen zu lassen, weil Paulus davon sprach, dass er immer mit einem reinen Gewissen vor Gott gelebt hat, war nicht in Ordnung. Hananias zeigte dadurch, dass er nicht als um Gerechtigkeit bemühter Richter handelte, sondern als Gegner von Paulus.

Ihr sollt beim Rechtsentscheid kein Unrecht begehen. Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen; gerecht sollst du deinen Mitbürger richten. (Levitikus 19,15)

Doch musste Paulus den Hohepriester deswegen eine „getünchte Wand“ nennen? Jesus hatte, als er vor dem ebenfalls Hohepriester genannten Hannas, dem Schwiegervater des damals amtierenden Hohepriesters Hannas, stand, anders gehandelt.

19 Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. 20 Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen. 21 Warum fragst du mich? Frag doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; siehe, sie wissen, was ich geredet habe. 22 Als er dies sagte, schlug einer von den Dienern, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Antwortest du so dem Hohepriester? 23 Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich? (Johannes 18,19-23)

Es wäre wohl für Paulus besser gewesen, in ähnlicher Weise wie Jesus zu antworten. Es kann sehr beschämend für einen Übeltäter sein, wenn seine Bosheit mit ruhigen und überlegten Worten aufgedeckt wird.

Andererseits waren die Worte, die Paulus gesprochen hat, durchaus berechtigt. Jesus hatte die Pharisäer mit getünchten Gräbern verglichen:

27 Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie getünchte Gräber, die von außen schön aussehen, innen aber voll sind von Knochen der Toten und aller Unreinheit. 28 So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit. (Matthäus 23,27-28)

Allerdings hatte Jesus nicht einen konkreten Pharisäer angesprochen. Er sagte das den Pharisäern allgemein. Jeder konnte dann für sich beurteilen, ob diese Worte auf ihn zutreffen.

Vielleicht hatte Paulus auch ein vom Propheten Ezechiel verwendetes Bild vor Augen:

10 Gerade deshalb, weil sie mein Volk in die Irre führen und Heil verkünden, wo es kein Heil gibt, weil das Volk eine Mauer aufrichtet und jene sie mit Tünche bestreichen, 11 deshalb sag denen, die sie mit Tünche bestreichen: Sie wird einstürzen. Es kommt ein Wolkenbruch und ihr, ihr Hagelsteine, sollt herabfallen und ein Sturmwind bricht los 12 und siehe, schon stürzt die Mauer ein. Wird man dann nicht zu euch sagen: Wo ist jetzt die Tünche, die ihr aufgetragen habt? (Ezechiel 13,10-12)

Es hilft einer baufälligen Mauer nicht, wenn sie mit strahlend weißer Farbe getüncht wird. Sie sieht schön aus, fällt aber rasch in sich zusammen. So war es auch mit Hananias, der sich mit dem Glanz der Gesetzestreue schmückte, aber seine Gesetzlosigkeit damit nur oberflächlich zudeckte. Er wurde zu Beginn des Jüdischen Krieges im Jahr 66 von Zeloten umgebracht. Manchmal wurde das als Erfüllung des Wortes von Paulus gesehen, dass Gott ihn schlagen werde.

Als Paulus von den Umstehenden vorgeworfen wurde, dass er den Hohepriester Gottes schmähe, hat er inhaltlich nichts zurückgenommen. Er hat nicht gesagt, dass seine Worte falsch gewesen wären, sondern dass es nicht richtig ist, „einen Fürsten des Volkes zu verfluchen“. Er hat sich dabei auf Exodus 22,27 bezogen:

Du sollst Gott nicht verächtlich machen und den Fürsten deines Volkes nicht verfluchen.

Im von Paulus zitierten Septuagintatext steht nicht „verfluchen“, sondern allgemeiner „schlecht reden“. Die Elberfelder Übersetzung von Apostelgeschichte 23,5b lautet: „Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht schlecht reden.“ Wir müssen davon ausgehen, dass dieses Gespräch auf Griechisch stattfand, da der römische Oberst anwesend war, der die Vorwürfe gegen Paulus herausfinden wollte. Paulus hat also den griechischen Text zitiert.

Paulus hat dadurch ausgedrückt, dass er Hananias als einen „Obersten“ oder „Fürsten“ seines Volkes anerkannte, und dass es aus diesem Grunde nicht richtig war, auf diese Weise zu sprechen. Paulus hat Hananias als politische Autorität anerkannt, nicht aber als geistliche. Er hat daher die durch seine Worte ausgedrückte Kritik nicht zurückgenommen.

Ist es nicht unglaubwürdig, dass Paulus nicht wusste, dass Hananias der Hohepriester war? Oder war es aufgrund eines vermuteten Augenleidens, dass er nicht so genau sah, dass derjenige, der Befehl zum Schlagen gab, der Hohepriester war?

In unserer Zeit, in der die Medien voll mit Bildern der Spitzenpolitiker und anderer Führungspersönlichkeiten sind, wäre es tatsächlich unglaubwürdig, wenn jemand den Bundeskanzler nicht erkennen würde. Diese Medien gab es damals aber nicht. Paulus war nur selten in Jerusalem. Er hatte zwar vor seiner Bekehrung gute Kontakte zum Hohen Rat und kannte auch den damaligen Hohepriester Kajaphas. Hananias, der Sohn des Nebedäus, wurde 47 n. Chr. zum Hohepriester ernannt. Damals hatte Paulus die Kontakte zur jüdischen Oberschicht nicht mehr. Während seiner wenigen kurzen Besuche in Jerusalem war Paulus mit seinen Brüdern und Schwestern in der Gemeinde zusammen, nicht mit den Mitgliedern des Hohen Rates. Der Hohepriester war auch nicht an einer besonderen Kleidung zu erkennen, da diese Kleidung von den Römern verwahrt wurde und dem Hohepriester nur zum kultischen Dienst an den großen Festen ausgehändigt wurde.

Es gibt daher keinen Grund, an der Aussage von Paulus, dass er nicht wusste, dass der, der den Befehl zum Schlagen gegeben hatte, der Hohepriester war, zu zweifeln.

Wir sollten auch die Bestätigung des Herrn nach der Verhandlung vor dem Hohen Rat vor Augen haben:

In der folgenden Nacht aber trat der Herr zu Paulus und sagte: Hab Mut! Denn so wie du in Jerusalem meine Sache bezeugt hast, sollst du auch in Rom Zeugnis ablegen. (Apostelgeschichte 23,11)

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