Gewiß, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Säbier – wer immer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt, – die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein. (Sure 2,62)
Auf den ersten Blick sieht dieser Vers so aus, als ob der Koran lehrt, dass auch Christen und Juden und Säbier (oder nach anderen Übersetzungen: Sabäer1) ins Paradies kommen könnten.
Betrachten wir den Vers im Kontext, erscheint er wie ein Fremdkörper, der mit dem, was vorher und nachher steht, nichts zu tun hat oder damit nur locker verbunden ist. Da geht es um den Ungehorsam des Volkes Israel während der Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten.
Vers 61 lautet:
Und als ihr sagtet: „O Musa, wir halten eine Speise allein nicht aus. Bitte doch für uns deinen Herrn, Er soll für uns etwas hervorbringen von dem, was die Erde wachsen läßt an Grünzeug, Gurken, Getreide, Linsen und Zwiebeln!“ Er sagte: „Wollt ihr das, was besser ist, eintauschen gegen das, was geringer (an Wert) ist? Geht fort in (irgendeine) Stadt! Dann werdet ihr bekommen, was ihr verlangt habt.“ Und es wurde ihnen Erniedrigung und Elend auferlegt, und sie zogen sich den Zorn von Allah zu. Dies, weil sie stets Allahs Zeichen verleugneten und die Propheten ohne Recht töteten; dies, weil sie sich widersetzten und stets übertraten.
Vers 63:
Und als Wir mit euch ein Abkommen trafen und den Berg über euch emporhoben (und zu euch sagten): „Haltet fest an dem, was Wir euch gegeben haben, und gedenkt dessen, was es enthält, auf daß ihr gottesfürchtig werden möget!“
In Vers 61 klagen die Israeliten über den Mangel an Gemüse in der Wüste. In Vers 63 ist mit dem „Abkommen“ wohl der Bundesschluss am Berg Sinai gemeint, den der Autor dieses Verses nur in einer auch dem Talmud bekannten legendären Überlieferung kannte. Allerdings gibt es am Ende von Vers 61 eine Verallgemeinerung, die ein sehr negatives Bild über die Israeliten zeichnet. Unter anderem wird ihnen vorgeworfen, dass sie „die Propheten ohne Recht töteten„.
Dem gegenüber wirkt die positive Darstellung der Juden und Christen in Vers 62 wie ein Kontrast.
Die Frage ist, ob es sich in Vers 61 um eine allgemeine Aussage handelt oder ob es um Juden, Christen und Sabäer in der vorislamischen Zeit geht, oder um diejenigen unter ihnen, die den Islam angenommen haben.
Der Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm schreibt dazu auf Seite 62:
Trotz ihrer Verbrechen und Untaten, die in den vorangegangenen Versen geschildert werden, behaupten die Juden immer noch, dass sie das auserwählte Volk Allāhs seien, dass nur sie rechtgeleitet seien, dass nur ihnen die Gnade Allāhs zuteil werde, dass nur sie Allāhs Lohn erhalten werden. Hier nun werden diese Behauptungen bestraft und zurückgewiesen. Stattdessen verkündet der Qur’ān den universellen Grundsatz der Einheit im Glauben, dem zufolge die Gnade Allāhs sich nicht auf eine Rasse, eine Religionsgemeinschaft oder einen Stamm beschränkt, sondern gleichermaßen alle aufrichtigen Gläubigen nach islamischen Maßstäben zu allen Zeiten und überall auf der Welt umfasst.
Die von mir hervorgehobene Aussage verstehe ich so, dass es seit der Verkündigung des Islams nur die Muslime betrifft. Juden, Christen und Sabäer müssen Muslime werden, damit diese Verheißungen auf sie zutreffen.
Islamischer Tradition zufolge hat Mohammeds Cousin Ibn Abbas behauptet, dass Sure 2,62 durch 3,85 abrogiert2 sei3:
Wer aber als Religion etwas anderes als den Islam begehrt, so wird es von ihm nicht angenommen werden, und im Jenseits wird er zu den Verlierern gehören.
Abu Abdullah al-Qurtubi erwähnt diese Verständnis von Ibn Abbas und führt weiter aus, dass andere sagen, dass dieser Vers nicht abrogiert sei, sondern dass es um die gehe, die an Mohammed glauben und in ihrem Glauben fest sind.
Ich möchte nicht ausschließen, dass Sure 2,62 ursprünglich tatsächlich gemeint hat, dass auch Juden, Christen und Sabäer gerettet werden können. Das klassische islamische Verständnis ist ein anderes. Es entspricht der von Ibn Abbas angeführten Sure 3,85 oder auch Sure 98,6:
Gewiß, diejenigen unter den Leuten der Schrift und den Götzendienern, die ungläubig sind, werden im Feuer der Hölle sein, ewig darin zu bleiben. Das sind die schlechtesten Geschöpfe.
Als „ungläubig“ gilt der, der den Islam ablehnt.
Grundsätzlich ist dieser Standpunkt auch konsequent. Wenn man davon überzeugt ist, dass die eigene Religion die Wahrheit ist, muss alles, was dieser Wahrheit widerspricht, zurückgewiesen werden. Nur wird das in einem heute verbreiteten Denken, demzufolge alle Religionen im Grunde dasselbe glauben und meinen, nicht zur Kenntnis genommen.
Auch Jesus hat von sich behauptet, dass er der einzige Weg zu Gott ist:
Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Johannes 14,6)
Wenn nun Muslime einerseits Jesus als Propheten akzeptieren, andererseits aber seinen Anspruch ablehnen, begeben sie sich in einen unauflöslichen Widerspruch, was auch ihrem Anspruch darauf, die einzig wahre Religion zu sein, den Boden entzieht.
Denken sie denn nicht sorgfältig über den Qur’an nach? Wenn er von jemand anderem wäre als von Allah, würden sie in ihm wahrlich viel Widerspruch finden. (Sure 4,82)
Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. (Markus 13,31)
- Der Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm (S.61f) schreibt in Bezug auf die Sabäer: Die Sabäer waren ein arabisches Volk in der Zeit vor dem Islam. Es gehörte zum Königreich Saba’ (um 950-115 v.Ztw.). Nach einigen Gelehrten handelte es sich um die sogenannten Johanneschristen, von denen einige Tausend noch heute im Irak leben. ↩
- Der Grundsatz der Abrogation wird in den Fällen verwendet, wenn zwei Koranverse im Widerspruch zueinander stehen. Der später „herabgesandte“ Vers hebt den früheren auf. ↩
- Abu Abdullah al Qurtubi, Tafsir al-Qurtubi: Classic Commentary of the Holy Qur’an, Aisha Bewley, trans. (London: Dar Al-Taqwa, 2003), I, 267; angeführt in: Robert Spencer, The Critical Qur’an, New York 2021, S.18. ↩