Kinder am Felsen zerschmettern?

Glücklich, der deine Kinder ergreift und sie am Felsen zerschmettert! (Psalm 137,9 – Elberfelder)

Psalm 137 spricht über die Zeit des Exils der Juden in Babylon. Es war eine schwere Zeit. Ihre Bedrücker wollten sich aber an ihren Liedern erfreuen. Der Psalm spricht über die Sehnsucht nach Jerusalem. In den Schlussversen geht es aber um Rache. Zuerst an den Edomitern, die mit den Babyloniern zusammengearbeitet haben, dann an Babylon. Am schrecklichsten erscheint der Schlussvers, weil es dort um die kleinen Kinder geht, die an dem, was ihre Vorfahren gemacht haben, keinerlei Schuld tragen konnten.

Es geht nicht um Kinder allgemein, wie die Elberfelder Bibel vermuten lässt, auch nicht noch allgemeiner um „Nachkommen“, wie es in der Einheitsübersetzung heißt.

Das Wort עוֺלָל / ′ôlāl leitet sich von einer Wurzel ab, die „säugen“ bedeutet. Es geht also um Kleinkinder oder Säuglinge.

Das Zerschmettern von Säuglingen war in der damaligen Kriegsführung nicht unbekannt. So hat Elischa dem Aramäer Hasael angekündigt, was er als König dem Volk Israel antun werde:

Du wirst ihre Festungen in Brand stecken, ihre jungen Männer mit dem Schwert töten, ihre Kinder zerschmettern, ihren schwangeren Frauen den Leib aufschlitzen. (2 Könige 8,12b)

Ähnliches kündigt Hosea für die Zerstörung Samarias an:

Samaria muss büßen, weil es sich empört hat gegen seinen Gott. Umkommen werden sie durch das Schwert, ihre kleinen Kinder werden zerschmettert, ihre schwangeren Frauen aufgeschlitzt. (Hosea 14,1)

Das heißt nicht, dass Gott wollte, dass es so kommen würde. Aber das war einfach die damals übliche brutale Kriegsführung. Laut Nahum 3,10 haben das die Assyrer in der ägyptischen Stadt No-Amon (Theben) ebenso gemacht, in Jesaja 13,16 wird Babylon dieses schreckliche Schicksal angekündigt.

Wir sollen aber nicht denken, dass unsere zivilisierte Gesellschaft weniger barbarisch ist. Bei uns werden die ungeborenen Kinder im Leib ihrer Mutter lebendig zerstückelt. Das geschieht sogar in viel größerer Anzahl als bei der antiken Kriegsführung. Damals wollte man die Feinde auf diese Weise demütigen. Heute vernichtet man die eigenen Kinder im Mutterleib.

Doch kehren wir zum Psalm zurück! Wie kann ein Gottesmann so einen schrecklichen Gedanken äußern? Von Jesus wissen wir, dass wir sogar unsere Feinde lieben sollen.

44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Matthäus 5,44-45)

Die einfachste Lösung wäre, wenn man das Wort עוֺלָל / ′ôlāl als Partizip des Verbs עָלַל / ′ālal („handeln, antun, wehtun“) verstehen würde. Dann würde es einfach bedeuten, dass die bösen Taten der Babylonier zerschmettert werden sollten. Das phonetische Problem, dass das Partizip ôlel lauten müsste, ist nicht groß. Die Zuordnung der Vokalzeichen fand viele Jahrhunderte später statt. Das größere Problem ist, dass dieses Verb in der Grundform „Qal“, in der das Partizip wäre, im Alten Testament nicht belegt ist. Das Wort für „Säugling“ kommt jedoch mehrmals im Zusammenhang mit dem Zerschmettern vor. Daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass dieses Wort in Psalm 137 eine andere Bedeutung haben sollte.

Auch die griechische Übersetzung der Septuaginta gibt es mit νήπιον / nēpion „Kleinkind“ wieder.

Der Psalmist sprach von der Zerstörung Babylons mit allen ihren brutalen Begleiterscheinungen. Vielleicht hatte er auch das prophetische Wort aus Jesaja 13,16 in Gedanken vor sich.

Aus der Geschichte wissen wir, dass die Juden niemals in der Lage waren, die in Psalm 137,9 geäußerten Handlungen durchzuführen. Auch Kyros hat sich bei der Eroberung Babylons keineswegs so verhalten. Er wurde sogar als Befreier willkommen geheißen.

Im Psalm geht es um die völlige Zerstörung Babylons. Das drückte der Psalmist dadurch aus, dass auch die kleinen Kinder vernichtet werden sollten. Babylon galt als das Zentrum des Götzendienstes und der Bosheit. Es ging nicht nur um Rachegelüste. Es ging auch um das Gericht Gottes an seinen Widersachern. Das Zentrum der Bosheit sollte es nicht mehr geben. Der Psalmist hatte nicht so sehr das Schicksal der einzelnen Kleinkinder im Auge, sondern das Gericht über die Bosheit, deren Verkörperung die Stadt Babylon war. Dieses Gericht ersehnte er.

Jesus hat das auch schon im Alten Testament bekannte Gebot der Feindesliebe vertieft. Von daher ist es klar, dass wir keinem Menschen und schon gar nicht kleinen Kindern wünschen dürfen, an Felsen zerschmettert zu werden.

Der Wunsch, dass Gott aller Bosheit ein Ende setzen möge, ist aber auch im Leben eines Christen sehr wichtig. Gott wird das am Ende der Geschichte tun. Wichtig für uns ist, dass wir der Bosheit in unserem Leben ein Ende bereiten, dass wir die „Kinder Babylons“ in uns, die uns von Gott wegziehen wollen, vernichten. Dieser Gedankengang geht über das, was der Psalmist ausgedrückt hat, hinaus. Aber er ist eine Konkretisierung der völligen Ablehnung der Bosheit, die der Psalmist vor allem von äußeren Feinden kommen sah.

Die sogenannten Kirchenväter haben sich in ihrer Auslegung oft von dem vom Psalmisten direkt gemeinten Sinn abgehoben und versucht, eine geistliche Bedeutung zu finden. Ich habe zu Psalm 137,9 eine Auslegung von Hilarius von Poitiers (ca. 315-367) gefunden, der den oben angeführten Gedankengang noch weiter konkretisiert hat. Er hat sich dabei schon etwas vom ursprünglichen Text entfernt, aber seine Gedanken sind trotzdem interessant:1

Und nicht allein der Vergelter des Gebührenden ist selig; sondern auch der ist selig, „welcher deine kleinen Kinder nehmen und sie zerschmettern wird am Felsen.“ Man darf die sündhaften Triebe des Leibes nicht heranwachsen lassen, sondern muß sie sogleich bei dem Entstehen vertilgen. Denn bereits erstarkte Begierden sind gefährlich; und Alles, was einmal groß gewachsen ist, wird schwer vernichtet. Leichter aber ist es, dieselben, wann sie eben aufkeimen, abzureißen, da sie noch zart sind, abzuschneiden, und wann sie noch biegsam sind, zurückzubiegen. Glücklich also ist jeder, welcher bei dem Entstehen alle unlautern Begierden und Leidenschaften, welche aus dem Triebe des Fleisches entstehen, zuerst durch die Macht seiner Geduld und Tugend einschränken, und dann an dem Glauben und der Furcht Gottes zerschmettern und tödten wird. Denn ein Jeder, welcher von den Sünden zur Gottseligkeit übergeht, wird alle Sünden an der Religion, zu der er übergetreten ist, zerschmettern und vermindern. Dadurch aber, daß er die kleinen Kinder der elenden Tochter Babylons nimmt, und an dem Felsen zerschmettert, wird sowohl die Tugend mit der er sie bei ihrer Geburt beschränkt, als auch der Glaube, mit dem er sie, damit sie nicht aufwachsen, zerschmettert, angezeigt. Und er zerschmettert sie am Felsen. Der Felsen aber ist, dem Apostel zufolge Christus. Und selig ist der, welcher an diesem die kleinen Kinder der Tochter Babylons, das heißt, die noch zarten sündhaften Triebe des Leibes, zerschmettern und zermalmen wird. Dem eingebornen Gott und unserm Herrn sey Herrlichkeit und Lob von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.


  1. Hilarius von Poitiers, Abhandlung über die Psalmen, Der hundertsechsunddreißigste Psalm 14. Zitiert nach der Bibliothek der Kirchenväter

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑