1 Es war da einer von den Pharisäern namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden. 2 Der suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3 Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden? 5 Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von oben geboren werden. 8 Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 9 Nikodemus erwiderte ihm: Wie kann das geschehen? 10 Jesus antwortete: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? (Johannes 3,1-10)
Johannes 3,5 ist die von Katholiken für die Heilsnotwendigkeit der Taufe angeführte Standardstelle. So gibt es in der Jerusalemer Bibel zu diesem Vers die kurze Anmerkung:
Anspielung auf die Taufe und ihre absolute Notwendigkeit.
Dieses Verständnis wird auch in verschiedenen kirchenamtlichen Texten dargelegt oder vorausgesetzt. Das Konzil von Florenz behauptete 1439 im „Lehrentscheid für die Armenier“:1
[…] Die erste Stelle von allen Sakramenten hat die heilige Taufe, die Pforte des geistlichen Lebens. Denn durch sie werden wir Glieder Christi und eingefügt in den Leib der Kirche. Und da durch den ersten Menschen der Tod über alle gekommen ist, so können wir nach dem Wort der Wahrheit (Jo 3,5) nicht eingehen in das Himmelreich, wenn wir nicht wiedergeboren werden aus dem Wasser und dem Geist.
Auch das Konzil von Trient führt Johannes 3,5 im Zusammenhang mit der Taufe an.2
Der aktuelle Katechismus der Katholischen Kirche lehrt im Abschnitt 1215:
Dieses Sakrament wird auch „Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist“(Tit 3,5) genannt, denn es bezeichnet und bewirkt die Geburt aus dem Wasser und dem Geist, ohne die niemand „in das Reich Gottes kommen kann“ (Joh 3,5).
Doch hat Jesus im Gespräch mit Nikodemus wirklich die Taufe gemeint, wenn er von der Geburt aus Wasser und Geist sprach?
Zuerst (Vers 3) spricht Jesus über die Notwendigkeit einer Geburt „von oben“ oder „von Neuem“, um das Reich Gottes sehen zu können. Das griechische Wort ἄνωθεν / ánōthen kann beides bedeuten. An den Stellen, an denen dieses Wort im Johannesevangelium außer in 3,3.5 vorkommt (Johannes 3,31; 19,11.23), heißt es „von oben“. Andererseits passt es besser in den Zusammenhang des Gesprächs, wenn Nikodemus „von Neuem“ verstanden hat.
Nikodemus hat sich diese Neugeburt zuerst sehr wörtlich vorgestellt. Darum hat Jesus das mit anderen Worten nochmals gesagt. Er sprach von einer Geburt „aus Wasser und Geist“ und führte dann aus, dass nur das, was aus dem Geist geboren ist, Geist ist. Es geht um das geistliche Leben. Dieses geistliche Leben braucht einen Anfang, eine Geburt, so wie auch das körperliche Leben mit der Geburt oder, genauer gesagt, mit der Zeugung (das griechische Wort γεννάω / gennáō kann „gebären“ oder „zeugen“ heißen) beginnt. Es beginnt dann, wenn ein Mensch sich zu Gott bekehrt und Gott diesem Menschen das geistliche Leben schenkt. Da geht es nicht um einen äußerlichen Ritus wie die Wassertaufe, sondern um das Geschenk Gottes, das er jedem gibt, der sich ihm mit einem ehrlichen Herzen auf dem Weg, den uns Jesus eröffnet hat, naht.
Jesus schloss mit seinen Worten an die durch den Propheten Ezechiel ergangene Verheißung an:
25 Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. 26 Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. 27 Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt. (Ezechiel 36,25-27)
Diese Stelle, in der die Ausgießung des Heiligen Geistes im Bild des Ausgießens von reinem Wasser verheißen wird, war Nikodemus sicherlich bekannt. Deswegen lesen wir in Vers 10 auch die tadelnde Frage:
Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?
Hätte Jesus hier über die Taufe gesprochen, wäre diese Fragestellung nicht berechtigt gewesen. Woher hätte Nikodemus das wissen sollen?
Die parallele Nennung von Wasser und Geist meint nicht zwei verschiedene Geburten oder Taufen, sondern das Wasser ist ein Bild für den Heiligen Geist. Johannes der Täufer sagte in Matthäus 3,11:
Ich taufe euch mit Wasser zur Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Sandalen auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.
Hier geht es nicht um zwei verschiedene Taufen, sondern das Feuer ist ein Bild für den Heiligen Geist.
In Johannes 3,5 ist das Wasser das Bild für den Heiligen Geist. Wasser reinigt und spendet Leben. Das ist das, was der Heilige Geist in einem Menschen bewirkt, der durch ihn zu einem neuen geistlichen Leben geboren wird.
Es stimmt, dass im Regelfall die Taufe das Zeichen der Umkehr und des von Gott geschenkten neuen Lebens ist. Doch es ist nicht die Symbolhandlung der Taufe, die dieses Leben bewirkt, sondern Gott schenkt es dem Menschen, der sich von seinen Sünden abwendet und sich von Gott ein Leben in Heiligkeit schenken lässt. Wenn aus irgendeinem Grund das äußere Zeichen der Taufe fehlt, heißt das nicht, dass Gott das geistliche Leben nicht schenkt.
Nur in einer zu leeren Ritualen erstarrten „Kirche“, in der das geistliche Leben nicht mehr zu sehen ist, wird die Durchführung einer Symbolhandlung zu dem entscheidenden Punkt, von dem es abhängt, ob ein Mensch ins Reich Gottes kommt oder nicht.
Jesus wollte Nikodemus nicht zur Taufe auffordern, da es die christliche Taufe am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu ohnehin nicht gab. Er wollte dem führenden Mann unter den Juden, dem Lehrer Israels, sagen, dass auch er sich vor Gott demütigen muss, um sich von ihm das Leben aus dem Geist schenken zu lassen. Mit dem Kommen Jesu ist auch die Zeit gekommen, in der Gott die von den Propheten ausgesprochene Verheißung der Ausgießung des Heiligen Geistes erfüllen würde.
Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! (Johannes 20,22)