Sein Gaumen ist Süße, alles ist Wonne an ihm. Das ist mein Geliebter, ja, das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems. (Hohelied 5,16)
Dank einiger islamischer Apologeten, die in diesem Vers eine Ankündigung ihres Propheten Mohammed finden wollen, ist diese Stelle bekannter als andere Abschnitte des Hohelieds. Ich habe mich in einem eigenen Beitrag mit dieser Behauptung auseinandergesetzt.
In diesem Beitrag aber soll es darum gehen, wie diese Stelle korrekt verstanden werden soll. Ich gehe dabei vom allegorischen Verständnis des Hohelieds aus. Meine Gründe dafür habe ich hier dargelegt.
Hohelied 5,16 ist der abschließende Vers der mit Vers 10 beginnenden Beschreibung des Geliebten. Die Geliebte wurde in Vers 9 aufgefordert, zu sagen, was ihr Geliebter den anderen voraushat. Was unterscheidet Gott von den anderen Göttern?
Ähnlich wird die Frage auch im Buch Jesaja gestellt.
Mit wem wollt ihr Gott vergleichen und welches Bild ihm gegenüberstellen? (Jesaja 40,18)
Mit wem wollt ihr mich vergleichen, dass ich ihm gleich wäre, spricht der Heilige. (Jesaja 40,25)
Doch die Antwort ist im Hohelied anders als im Jesajabuch. Dort wird darauf hingewiesen, dass die Götzen nur ein Werk von Handwerkern sind, während Gott der Schöpfer der Erde und des Himmels ist. Er hat die Gestirne erschaffen. Sie sind ihm untertan.
Im Hohelied hingegen beschreibt die Frau ihren Geliebten mit einer bilderreichen Sprache. Sie beschreibt ihn von oben nach unten. Beim Haupt beginnend bis zu den Füßen spricht sie über die verschiedenen Teile seines Körpers.
Wie geht das bei Gott? Gott ist Geist (Johannes 4,24a). Wie kann man den unsichtbaren Gott in dieser Weise beschreiben? Wenn es darum ginge, das tatsächliche Aussehen Gottes zu beschreiben, wäre diese Beschreibung nicht nur falsch, sondern eine Gotteslästerung. Gott ist nicht weiß und rot. Er hat kein goldenes Haupt mit schwarzen Locken.
Das Bild Gottes, von dem die Bibel spricht, ist der Mensch.
26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. 27 Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. (Genesis 1,26-27)
Doch der Mensch ist nicht in körperlicher Hinsicht Abbild Gottes, sondern aufgrund seines geistlichen Wesens. Er sollte über die Tiere herrschen. Im Gegensatz zu den Tieren ist der Mensch auf eine persönliche Beziehung zu seinem Schöpfer hin ausgerichtet.
Das vollkommene Abbild Gottes ist Jesus Christus, der anders als alle anderen Menschen nie gesündigt hat.
15 Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. 16 Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. 17 Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. (Kolosser 1,15-17)
Während der Mensch nur ein geschaffenes Abbild Gottes ist, ist Jesus als der ewige Sohn Gottes, in dem alles im Himmel und auf Erden erschaffen wurde, das ewige ungeschaffene Abbild seines Vaters, mit dem er in unauflöslicher Einheit des göttlichen Wesens verbunden ist.
In Hohelied 5 kann es nicht um eine Beschreibung des leiblichen Aussehens Gottes oder auch Jesu gehen. Auch wenn man das Hohelied als ein irdisches Liebeslied versteht, passt diese Beschreibung nicht so gut auf einen Menschen. Er ist weiß und rot, hat aber einen goldenen Kopf mit schwarzen Locken. Dass die Lippen von flüssiger Myrrhe tropfen, wäre für einen Mann kein Kompliment.
Ein Lösungsversuch besteht darin, in der Beschreibung des Geliebten verschiedene Hinweise auf den Tempel zu finden. So schreibt die Jerusalemer Bibel:
Verschlüsselte Beschreibung des Geliebten wegen der Anspielung, so scheint es, auf den Tempel, seine Wohnstatt. Der Verfasser bezieht sich auf die Beschreibung des Salomonischen Tempels in 1 Kg 6-7, vgl. 2 Chr 3.
In der Tat waren die Wände des Allerheiligsten mit Gold überzogen, andererseits in fensterloser Dunkelheit. Das Haupt war reines Gold und doch „rabenschwarz“. Auch andere Details wie Säulen passen zu einem Bauwerk. Auch der Vergleich mit dem Libanon und den Zedern, die im Tempel reichlich verbaut wurden, würde gut zu diesem Bild passen. Nach dieser Erklärung würde nicht Gott beschrieben, sondern der Ort, an dem man in Israel Gott begegnen sollte.
In Vers 16 würde es dann aber wieder um Gott gehen.
Der Gaumen (חֵךְ / chēk) ist im Alten Testament entweder das Geschmacks- oder das Redeorgan (z. B. Ijob 33,2). Wenn sein Gaumen Süße ist, kann das ein Hinweis auf seine Worte sein. In Psalm 19,11 heißt es über die Urteile des HERRN, womit im Zusammenhang seine Worte gemeint sind:
Sie sind kostbarer als Gold, als Feingold in Menge. Sie sind süßer als Honig, als Honig aus Waben.
Ähnlich Psalm 119,103:
Wie süß ist dein Spruch meinem Gaumen, meinem Mund ist er süßer als Honig.
Was aus dem Mund Gottes kommt, ist für seine geliebte Braut, die seinen Willen tun will, Süßigkeit.
Das von der Einheitsübersetzung mit „Wonne“ wiedergegebene Wort מַחְמָד / machmād, in dem manche Muslime Mohammed erkennen wollen, heißt eigentlich „begehrenswert“. In Ezechiel 24,21 wird es für das Heiligtum verwendet, an anderen Stellen steht es für kostbare Gegenstände, vor allem für die Schätze des Tempels oder der Stadt Jerusalem (z. B. Klagelieder 1,10). Der Geliebte der Braut ist überaus kostbar und begehrenswert. Gott ist der Schatz seines Volkes, er sein Geliebter und sein Freund.
Im allegorischen Verständnis spricht Hohelied 5,16 über die Süße des Wortes Gottes und über die Kostbarkeit und Einzigartigkeit Gottes. Er allein ist es wert, begehrt zu werden. Er allein kann bleibende Erfüllung schenken.
25 Wen habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf Erden. 26 Mag mein Fleisch und mein Herz vergehen, Fels meines Herzens und mein Anteil ist Gott auf ewig. (Psalm 73,25-26)