Die Evangelisten Lukas und Johannes schreiben in jeweils unterschiedlichem Zusammenhang darüber, dass der Satan in Judas gefahren ist.
1 Das Fest der Ungesäuerten Brote, das Pascha genannt wird, war nahe. 2 Und die Hohepriester und die Schriftgelehrten suchten nach einer Möglichkeit, Jesus zu beseitigen; denn sie fürchteten sich vor dem Volk. 3 Da fuhr der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte. 4 Judas ging zu den Hohepriestern und den Hauptleuten und beriet mit ihnen, wie er Jesus an sie ausliefern könnte. 5 Da freuten sie sich und kamen mit ihm überein, ihm Geld zu geben. 6 Er sagte zu und suchte nach einer günstigen Gelegenheit, ihn an sie auszuliefern, ohne dass das Volk es merkte. (Lukas 22,1-6)
21 Nach diesen Worten wurde Jesus im Geiste erschüttert und bezeugte: Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern. 22 Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wussten, wen er meinte. 23 Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. 24 Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. 25 Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? 26 Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. 27 Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn. Jesus sagte zu ihm: Was du tun willst, das tue bald! (Johannes 13,21-27)
Bevor ich auf diese beiden Situationen eingehe, möchte ich der Frage nachgehen, was mit der Aussage, dass der Satan in Judas fuhr, ausgedrückt werden soll.
In den Evangelien gibt es Berichte, dass Jesus immer wieder Besessene von den Dämonen befreit hat. In diesen Berichten geht es immer nur um die Befreiung der Menschen. Die Frage, wie diese Menschen unter den Einfluss der Dämonen gekommen sind, wird nicht gestellt. Da das zumindest in einem Fall bereits in jungen Jahren geschehen ist (Markus 9,21), ist nicht von einer sehr großen Schuld der Betreffenden auszugehen. Auch in allen anderen Fällen ist die Schuld dieser Menschen kein Thema.
Deswegen ist die Sache bei Judas nicht auf der Ebene dieser Besessenheiten zu sehen. Judas hat sich bewusst in Freiheit dazu entschlossen, Jesus zu verraten. Es lag kein Zwang auf ihm, das zu tun. Zur Frage nach dem Motiv von Judas gibt es einen eigenen Beitrag. Weder Lukas noch Johannes berichten, dass Judas, nachdem der Satan in ihn gefahren war, sich äußerlich anders verhalten hätte als vorher. Die Anzeichen von Besessenheit, die bei den Menschen zu beobachten waren, die von Jesus befreit wurden, waren bei Judas nicht zu sehen. Im Falle einer derartigen Besessenheit hätte Jesus den Satan aus Judas austreiben können und Judas wäre frei gewesen. Aus diesen Gründen ist diese Art von Besessenheit auszuschließen.
Judas hat sich durch seine Entscheidung zu einem Werkzeug Satans gemacht, auch wenn er nach seiner subjektiven Überzeugung das ganz anders gesehen haben mag. Der Feind Gottes wollte durch die physische Vernichtung des Messias die Erlösung zunichtemachen. Judas hat einen wichtigen, wenn auch nicht unbedingt notwendigen Beitrag dazu geleistet.1 Zum Wesen einer bösen Entscheidung gehört auch, dass sie den Menschen verhärtet. Je tiefer man in eine Entscheidung hineingeht, umso schwieriger wird es, sich noch zu ändern. Ich denke, dass die Evangelisten mit dem Ausdruck, dass der Satan in Judas fuhr, sagen wollten, dass hier der Punkt erreicht war, an dem es für ihn kein Zurück mehr gab. Er hat sich – wenn auch unwissentlich – so stark mit dem Ziel Satans identifiziert, dass man sagen konnte, dass der Satan in ihm war. Auch wenn Judas, als er bemerkte, dass Jesus wirklich getötet werden würde, darüber erschrak und sich in die Verzweiflung flüchtete, war er doch nicht mehr zu einer echten Reue fähig (vergleiche Matthäus 27,3-10). Er hatte die Seite von Gott zu Satan gewechselt.
Doch warum schreiben Lukas und Johannes in unterschiedlichem Zusammenhang darüber?
Nach Lukas fuhr der Satan in Judas, als Judas sich wenige Tage vor dem Paschafest auf den Weg zu den Hohepriestern machte, um ihnen den Verrat anzubieten.
Johannes zufolge geschah das später, erst am Abend des letzten Zusammenseins Jesu mit seinen Jüngern, als Judas, nachdem ihm Jesus ein Stück Brot gegeben hatte, das gemeinsame Mahl vorzeitig verließ, um zu den jüdischen Führern zu gehen und den Verrat auszuführen. Nicht einmal die Worte Jesu, der davon sprach, dass ihn jemand der Jünger ausliefern würde, haben Judas noch erschüttert.
Wenn der Satz, dass der Satan in Judas fuhr, eine geistliche Beurteilung, ab wann es für Judas kein Zurück mehr gab, ausdrückt, dann war es wohl so, dass Lukas und Johannes das unterschiedlich beurteilt haben. Lukas sah bereits Judas‘ Angebot, Jesus zu verraten, als so negativ, dass er sich dadurch ganz für das Wirken des Teufels geöffnet hatte. Johannes sah den Punkt der Unumkehrbarkeit erst gegeben, als Judas den Jüngerkreis verließ, um sein satanisches Werk auszuführen.
Es handelt sich hier nicht um einen Widerspruch in der Sache, sondern um eine unterschiedliche Beurteilung des Zeitpunkts. Inspiration heißt nicht, dass den Evangelisten von Gott jedes Wort oder auch jede Beurteilung diktiert wurde. Sie sind unter der Führung des Heiligen Geistes zu ihrer Beurteilung gelangt, die in einer Randfrage unterschiedlich sein konnte.
Der Schreiber des Johannesevangeliums, der aufgrund der gemeinsamen Nachfolge Judas persönlich kannte, hat bei ihm vielleicht noch eine Möglichkeit der Umkehr gesehen, als Jesus auch ihm die Füße gewaschen hat und so auch Judas dieses Zeichen der demütigen Liebe geschenkt hat. Gewiss hat Jesus bei der Fußwaschung auch ausgedrückt, dass nicht alle rein sind und dabei auf den Verräter angespielt (Johannes 13,10-11). Aber gerade das hätte Judas noch zum Nachdenken und zur Umkehr bringen können.
Diese letzten Gedanken können nur als eine Möglichkeit gesehen werden, wie Johannes dazu gekommen ist, das Fahren des Satans in Judas später anzusetzen, als Lukas es getan hat.
Klar ist aber, dass Judas wie die anderen Jünger die Möglichkeit hatte, sich von Jesus verändern zu lassen, dass er nicht von Anfang an ein Mensch war, der vom Satan geleitet wurde. Judas hat sich frei für den Weg entschieden, den er gegangen ist. Die Erlösung war nicht von seinem Verrat abhängig. Die Erlösung kommt einzig und allein von Gott, der die Bosheit der Menschen nicht benötigt, um Gutes zu tun.
- Die jüdischen Führer hätten Jesus auch ohne den Verrat durch Judas töten können. Der Verrat hat die Sache für sie nur wesentlich einfacher gemacht. ↩