Warum wurde Timotheus beschnitten?

1 Er kam auch nach Derbe und nach Lystra. Und siehe, dort lebte ein Jünger namens Timotheus, der Sohn einer gläubig gewordenen Jüdin und eines Griechen. 2 Er war Paulus von den Brüdern in Lystra und Ikonion empfohlen worden. 3 Paulus wollte ihn als Begleiter mitnehmen und ließ ihn mit Rücksicht auf die Juden, die in jenen Gegenden wohnten, beschneiden; denn alle wussten, dass sein Vater ein Grieche war. (Apostelgechichte 16,1-3)

Seit Gott einen Bund mit Abraham geschlossen hatte, war die Beschneidung das Zeichen des Bundes zwischen Gott und seinem Volk (vergleiche Genesis 17,9-14). So war auch Jesus beschnitten (Lukas 2,21), ebenso auch alle Apostel und alle männlichen Jünger, die aus dem Judentum kamen. Als sich immer mehr Nichtjuden auf den Weg der Nachfolge begaben, stellte sich die Frage, was mit diesen Unbeschnittenen geschehen soll. Manche, die besonders gesetzestreu erscheinen wollten, verlangten ihre Beschneidung (Apostelgeschichte 15,1). Das sogenannte Apostelkonzil, eine Versammlung der Apostel und der Ältesten der Gemeinde von Jerusalem, wies diese Forderung zurück. Es wurde erwartet, dass die aus dem Heidentum kommenden Christen in einigen Punkten auf die jüdischen Reinheitsvorschriften Rücksicht nehmen, doch wurde klargestellt, dass ihnen sonst keine Last auferlegt werden solle, was unausgesprochen auch bedeutete, dass sie nicht beschnitten werden mussten (Apostelgeschichte 15,19-20).

Den Gemeinden von Galatien, unter denen einige „Judaisten“ (Menschen, die auch von den Heidenchristen die Beschneidung und Beobachtung des jüdischen Gesetzes forderten), aktiv gewesen waren, schrieb Paulus sogar, dass für sie die Beschneidung eine Entscheidung gegen Christus ist.

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! 2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. 3 Ich bezeuge wiederum jedem Menschen, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. 4 Ihr, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, seid von Christus getrennt; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. (Galater 5,1-4)

Wenn sich Nichtjuden, die Jesus nachfolgten, beschneiden ließen und sich den Regeln des jüdischen Ritualgesetzes unterwarfen, sah Paulus darin einen Akt gegen die Gnade Gottes, die in Jesus Christus zu uns gekommen ist. Anstatt sich von Gottes frei geschenkter Gnade verändern zu lassen, setzt der Mensch auf seine eigene Handlungen. Er will sich letztlich selbst rechtfertigen. Deswegen hat Paulus zu so drastischen Worten gegriffen, um die jungen Christen von einem falschen Weg abzuhalten.

Denn in Christus Jesus vermag weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt. (Galater 5,6)

Was zählt, ist die gläubige Annahme von Gottes Gnade und Liebe, die den Menschen zu einem neuen Menschen macht, nicht ein äußeres Ritual wie die Beschneidung.

Zu beachten ist auch, dass der Galaterbrief mit größter Wahrscheinlichkeit von Paulus an die auf der 1. Missionsreise gegründeten Gemeinden geschrieben wurde.1 Ich halte es auch für möglich bis wahrscheinlich, dass Paulus diesen Brief während seines Aufenthalts in Antiochia nach dem Apostelkonzil aber noch etwas vor seiner 2. Missionsreise verfasst hat. Das würde bedeuten, dass die Gemeinden von Lystra, Derbe und Ikonion den Galaterbrief kannten, als Paulus auf der 2. Missionsreise wieder zu ihnen kam und Timotheus beschneiden ließ.

Warum wollte Paulus dann, dass Timotheus beschnitten wird? Hat Paulus hier gegen seine eigenen Grundsätze gehandelt? Oder sollen wir annehmen, dass der Autor der Apostelgeschichte schlecht informiert war? Es wird ja von vielen Theologen angenommen, dass das Paulusbild der Apostelgeschichte nicht dem aus seinen Briefen gewonnenen Selbstzeugnis des Apostels entspricht.

Selbst bei der meines Erachtens unrichtigen Annahme zahlreicher Theologen, dass die Apostelgeschichte in den 80er- oder 90er-Jahren des 1. Jahrhunderts geschrieben wurde, ist davon auszugehen, dass Timotheus, der bei seiner Berufung zum Paulusbegleiter um das Jahr 49 ein junger Mann war, zur Zeit der Niederschrift der Apostelgeschichte 30 bis 45 Jahre später noch gelebt hat und dass der Verfasser der Apostelgeschichte nicht gewagt hätte, etwas über Timotheus zu erfinden, was dieser sehr rasch widerlegen können hätte. Außerdem war die Frage der Beschneidung gegen Ende des 1. Jahrhunderts, als sich die Gemeinde mehr und mehr vom Judentum gelöst hatte, nicht mehr bedeutsam. Es fehlt einfach das Motiv, warum diese Begebenheit erfunden worden wäre. Wir müssen also davon ausgehen, dass Paulus tatsächlich die Beschneidung von Timotheus vorschlug, die natürlich nicht ohne dessen Zustimmung geschah.

Timotheus war nach jüdischem Verständnis kein Heide, sondern Jude, da er der Sohn einer jüdischen Mutter war. Seine Mutter hatte ihn im jüdischen Glauben erzogen. Er kannte von Kindheit an die Heiligen Schriften (2 Timotheus 3,15). Daher trafen die Worte, die Paulus im Galaterbrief gegen die Beschneidung von Nichtjuden geschrieben hatte, im Fall von Timotheus nicht zu.

Lukas schreibt, dass Paulus Timotheus mit Rücksicht auf die Juden beschneiden ließ. Paulus wollte den Juden keine unnötigen Hindernisse in den Weg stellen. Das drückte er in 1 Korinther 9,20 mit einem oft missverstandenen Satz aus:

Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen.

Paulus war damit einverstanden, dass sein Mitarbeiter, der in jüdischen Augen ohnehin als Jude galt, das auch durch den chirurgischen Eingriff der Beschneidung zum Ausdruck brachte.

Vermutlich ging es Paulus nicht nur um Rücksicht auf die Juden, die „in jenen Gegenden wohnten“, sondern auch grundsätzlich um den Einsatz in der Verkündigung. Wann immer Paulus in eine neue Stadt kam, begab er sich ehestmöglich in die Synagoge (z. B. Apostelgeschichte 13,5.14) oder an einen Ort, wo er eine Gebetsstätte vermutete (Apostelgeschichte 16,13). Den Juden sollte die Botschaft als Erstes verkündet werden.

Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen. (Römer 1,16)

Das war der von Gott festgelegte Heilsweg. Über die Juden sollte seine Botschaft zu allen Völkern kommen. Außerdem war es für die jungen Gemeinden wichtig, dass es Brüder mit einer festen Grundlage in der Heiligen Schrift und dem Glauben an den einen Gott gab. Das konnte anfangs nur bei Jüngern mit jüdischem Hintergrund der Fall sein.

Paulus als Jude konnte in den Synagogen frei sprechen und seinen jüdischen Brüdern und Schwestern das Evangelium verkünden. Für seinen Mitarbeiter Timotheus wäre das ohne Beschneidung nicht möglich gewesen. So aber konnte auch er in den Synagogen vor allen sprechen. Das war für die Mission von großer Bedeutung.

Bei nichtjüdischen Mitarbeitern (z. B. Titus) gab es diese Möglichkeit nicht. Doch war für Paulus klar, dass in diesem Fall die Beschneidung nicht infrage kam.

Es ist also keineswegs so, dass bei der Beschneidung von Timotheus Paulus seine eigenen Grundsätze umgeworfen hat. Er hat nicht stur nach einer Regel gehandelt, sondern hat in der jeweiligen Situation gefragt, was das Beste für die Arbeit im Reich Gottes ist. Paulus war nicht von Paragrafen motiviert, sondern von der Liebe.

Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. (1 Korinther 9,22)


  1. Ich denke, dass die sogenannte südgalatische Hypothese zutrifft, derzufolge der Galaterbrief an die auf der 1. Missionsreise gegründeten Gemeinden im Süden der römischen Provinz Galatia gerichtet war, auch wenn die Bewohner dieser Gegenden keine Galater im ethnischen Sinn waren. Die sogenannte nordgalatische Hypothese, die die Empfänger weiter nördlich, im Bereich rund um das heutige Ankara annimmt, findet außerhalb des deutschen Sprachraums kaum Unterstützung. 

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