„Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges.“

22 Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit; 23 in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde. 24 Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren, als es die Quellen noch nicht gab, die wasserreichen. 25 Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren. 26 Noch hatte er die Erde nicht gemacht und die Fluren und alle Schollen des Festlands. 27 Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern, 28 als er droben die Wolken befestigte und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer, 29 als er dem Meer sein Gesetz gab und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß, 30 da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. 31 Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein. (Sprichwörter 8,22-31)

Dieser Text aus dem Buch der Sprichwörter oder Sprüche zeigt die große Bedeutung der Weisheit bei der Schöpfung. Die Weisheit wird nicht nur im gesamten 8. Kapitel dieses Buches personifiziert und tritt als Sprecherin auf, sondern auch in 1,20-33 und 9,1-12. Doch unterscheiden sich die Verse 8,22-31 von den anderen Texten, in denen es vor allem um eine Ermahnung an die Menschen geht, in ihrer Lebensgestaltung auf die Weisheit zu hören und zu achten. Dort ist klar, dass es keine Person namens Weisheit gibt. Man kann das ganz gut als ein dichterisches Kunstmittel verstehen, dass der Autor dieser Texte die Weisheit sprechen lässt.

Im oben zitierten Abschnitt tritt die Weisheit aber fast wie eine eigene Person auf. Deswegen wurde von manchen Kirchenvätern beginnend mit Justin im 2. Jahrhundert (Dialog mit Trypho 61,1) diese Weisheit mit dem als Wort Gottes präexistenten Jesus Christus gleichgesetzt.

In unserer Zeit berufen sich auch die Zeugen Jehovas auf diesen Text. Aber anders als die Kirchenväter wollen sie damit zeigen, dass Jesus vor seiner Menschwerdung ein Geschöpf war. So schreiben sie z. B. im Wachtturm, Studienausgabe vom 15. September 2005:

In Sprüche 8:22-31 sagt er als personifizierte Weisheit: „Ich [wurde] neben ihm [dem Schöpfer] zum Werkmeister, und ich wurde der, den er Tag für Tag besonders lieb  hatte, während ich allezeit vor ihm fröhlich war.“

Die oben zitierte Version der Einheitsübersetzung scheint für die Deutung der Zeugen Jehovas zu sprechen.

Es heißt ja dort in Vers 22: Der HERR hat mich geschaffen […]. Auch Vers 23 geht in dieselbe Richtung: In frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde.

Was ist dazu zu sagen?

Wenn anderswo im Buch der Sprichwörter das personhafte Auftreten und Sprechen der Weisheit als Stilmittel verwendet wird, legt sich nahe, dass das auch in 8,22-31 der Fall ist. In 9,13-18 wird auch die Torheit personifiziert, ohne dass man das als präexistente Darstellung einer konkreten geschichtlichen Person versteht.

Aber ich möchte doch nicht ganz ausschließen, dass in diesem Text schon eine gewisse Vorbereitung auf das Geheimnis des dreieinen Wesen Gottes gelegt wird. Da das aber noch ganz im Rahmen des Alten Testaments geschieht, darf man hier keine dogmatische Präzision in den Formulierungen erwarten. Der Autor dieses Textes hatte nicht die Absicht, über die Dreieinigkeit, die ihm selbstverständlich unbekannt war, eine Aussage zu treffen. Aber Gott konnte seine Gedanken und Worte so lenken, dass sie in diese Richtung weisen.

Überdies können die Verse 22-23 auch anders übersetzt werden, als es die Einheitsübersetzung oder die Neue-Welt-Übersetzung der Zeugen Jehovas tun.

Einige Übersetzungen im Vergleich:

Einheitsübersetzung 2016:
22 Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit;  23 in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde.

Neue-Welt-Übersetzung 2018:
22 Jehova brachte mich als den Anfang seines Weges hervor, als das früheste seiner Werke vor langer Zeit. 23 Seit alter Zeit war ich eingesetzt, von Anfang an, vor den Urzeiten der Erde.

Martin Buber:
22 ER hat mich als Anfang seines Weges gestiftet, als vorderstes seiner Werke von je. 23 Von urher bin ich belehnt, von der Frühe, von den Vorzeiten der Erde.

Luther 2017:
22 Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. 23 Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.

Revidierte Elberfelder:
22 Der HERR hat mich geschaffen als Anfang [oder: besaß mich im Anfang] seines Weges, als erstes seiner Werke von jeher. 23 Von Ewigkeit her war ich eingesetzt, von Anfang an, vor den Uranfängen der Erde.

Schlachter 200:
22 Der HERR besaß mich am Anfang seines Weges, ehe er etwas machte, vor aller Zeit. 23 Ich war eingesetzt von Ewigkeit her, vor dem Anfang, vor den Ursprüngen der Erde.

In Vers 22 steht das Verb קָנָה / qānāh mit der Grundbedeutung „erwerben, kaufen“ und einer weiteren Bedeutung „schaffen, hervorbringen“1. Deswegen übersetzen manche mit „hat mich gehabt“ oder „besaß mich“. Für die Übersetzung „hat mich geschaffen“ spricht, dass bereits die vorchristliche griechische Übersetzung der Septuaginta so übersetzt hat.
Andererseits sagt die Weisheit in den Versen 24 und 25, dass sie „geboren“ wurde. Das ist etwas grundsätzlich anderes als „geschaffen“. Ein Kind, das geboren wird, hat dasselbe Wesen wie seine Eltern. Ein Geschöpf unterscheidet sich in seinem Wesen von seinem Schöpfer. Aber vielleicht ist diese Präzision im Alten Testament noch nicht zu erwarten. Es sollte einfach gesagt werden, dass die Weisheit schon vor Beginn der Schöpfung da war.

Die Version der Neue-Welt-Übersetzung „hervorgebracht“ am Beginn von Vers 22 ist durchaus passend. Allerdings hat diese Übersetzung „hervorgebracht“ auch in 24 und 25.

Auch das Verb נָסַךְ / nāsak in Vers 23 ist nicht einfach. Es gibt zwei gleichlautende Stämme, einen mit der Bedeutung „gießen“ und einen mit der Bedeutung „flechten, weben, decken“. Von der Bedeutung „gießen“ leitet sich wegen der Verwendung dieses Worts bei Trankopfern die Bedeutung „weihen, einsetzen“ ab. Die Septuaginta hat hier „hat er mich gegründet oder grundgelegt“. Die Einheitsübersetzung hat sich mit der Version „gebildet“ offensichtlich auf den zweiten Stamm „flechten, …“ gestützt. Mit der Bedeutung „eingesetzt“ würde dieser Vers bedeuten, dass die Weisheit bereits vor der Schöpfung vom Schöpfer ihre Aufgabe bei der Schöpfung zugewiesen bekommen hat.

Die Übersetzung ist nicht einfach. Man kann aber nicht einfach sagen, dass die Weisheit ein Geschöpf Gottes ist. Dann hätte es ja Gott, bevor er die Weisheit geschaffen hatte, an Weisheit gemangelt. Dann wäre Gott aber nicht Gott, der vollkommen und ohne jeden Mangel ist. Die vollkommene Weisheit ist eine Eigenschaft Gottes, ohne die es Gott nicht geben kann.

Vielleicht wollte der Autor von Sprichwörter 8 einfach nur die grundlegende Bedeutung der Weisheit darlegen. Gott hat die Welt in seiner Weisheit geschaffen. Ohne die Weisheit gäbe es keine Schöpfung. Darum sollen auch wir als seine Geschöpfe immer nach der Weisheit trachten, deren Anfang die Furcht des HERRN ist.

Die Furcht des HERRN ist Anfang der Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Erziehung. (Sprichwörter 1,7)

Aber die Worte aus Sprichwörter 8 können auch eine Vorbereitung auf die volle Offenbarung sein, die uns Gott durch Jesus Christus geschenkt hat, der das ewige Wort Gottes und seine Weisheit in Person ist.

23 Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, 24 für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1 Korinther 1,23-24)

In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. (Kolosser 2,3)

Ergänzend möchte ich noch aus der Erklärung der Jerusalemer Bibel zu Sprichwörter 8 zitieren:

Die Liturgie bezieht Spr 8,22f aufgrund eines nicht wörtlichen oder typischen, sondern „angepassten“ Schriftsinnes (Akkommodation) auf Maria, die Mitwirkende des Erlösers, wie die Weisheit Mitwirkerin des Schöpfers ist.

Es handelt sich hier wirklich um einen „angepassten“ Schriftsinn, wo nicht die Lehre an die Schrift, sondern die Schrift an die Lehre angepasst wird.


  1. Im Wörterbuch von Gesenius, 18. Auflage, wird aber angenommen, dass es sich um zwei gleichlautende, aber grundsätzlich verschiedene Wortstämme handle. 

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