In drei Evangelien – Matthäus, Markus, Johannes – lesen wir über ein besonderes Wunder Jesu. Als die Jünger Jesu des Nachts mit einem Boot den See Genesareth überquerten, gerieten sie in einen Sturm. Da begegnete ihnen Jesus, wie er über das Wasser ging. Dadurch zeigte ihnen Jesus seine Autorität über die Gewalten der Natur. Als Jesus zu ihnen ins Boot stieg, legte sich der Wind.
Matthäus und Markus berichten über die anschließende Reaktion der Jünger.
Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, Gottes Sohn bist du. (Matthäus 14,33)
Sie aber waren bestürzt und fassungslos. 52 Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt. (Markus 6,51b-52)
Auf den ersten Blick scheinen Matthäus und Markus von unterschiedlichen Situationen zu berichten. So gegensätzlich sind ihre Aussagen. Da aber der Wandel Jesu auf dem See ein einmaliges Ereignis war, muss es um dieselbe Situation gehen. Haben wir es also mit einem Widerspruch zwischen den Evangelien zu tun?
Matthäus berichtet darüber, wie die Jünger unmittelbar auf das Wunder reagiert haben. Markus beschreibt ihre innere Haltung.
Die von Matthäus wiedergegebenen Worte der Jünger waren für sie keine neue Erkenntnis. Bereits bei seiner Berufung bekannte Natanael:
Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel! (Johannes 1,49)
„Sohn Gottes“ und „König von Israel“ hatten für ihn dieselbe Bedeutung. Beide Ausdrücke meinten den Messias.
Auch Andreas hatte am Tag zuvor seinem Bruder Simon gesagt:
Wir haben den Messias gefunden – das heißt übersetzt: Christus. (Johannes 1,41)
Er sagte das aufgrund des Zeugnisses Johannes des Täufers. Die Jünger folgten Jesus, weil sie in ihm den verheißenen Messias sahen. Die Wunder, die Jesus wirkte, bestätigten diese Überzeugung. Auch der in Matthäus 14 geschilderte Seewandel. Ihr Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes war zu jener Zeit noch im Rahmen der jüdischen Messiaserwartung zu verstehen.
Markus schrieb über die mangelnde Erkenntnis und das verstockte Herz der Jünger. Es fehlte ihnen trotz ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem Messias noch das tiefere Verständnis, was dieses Messias-Sein Jesu bedeutete. Ihre Vorstellung war noch vom Bild eines irdischen, machtvollen Herrschers geprägt, der alle Feinde Gottes und seines Volkes vernichten würde. Sie verstanden noch nicht, dass Jesus gekommen war, zu dienen und in Konsequenz sein Leben für die Menschen hinzugeben.
Das wird auch aus der in Markus 8,27-33 erzählten Begebenheit sichtbar.
27 Jesus ging mit seinen Jüngern in die Dörfer bei Cäsarea Philippi. Auf dem Weg fragte er die Jünger: Für wen halten mich die Menschen? 28 Sie sagten zu ihm: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten. 29 Da fragte er sie: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete ihm: Du bist der Christus! 30 Doch er gebot ihnen, niemandem etwas über ihn zu sagen. 31 Dann begann er, sie darüber zu belehren: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. 32 Und er redete mit Freimut darüber. Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen. 33 Jesus aber wandte sich um, sah seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Tritt hinter mich, du Satan! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.
Zuerst bekannte Simon Petrus Jesus als Messias (= Christus). Doch kurz danach, als Jesus über sein künftiges Leiden sprach, begann Petrus, ihn zurechtzuweisen. Das Bekenntnis zum Messias Jesus war noch mit einem Unverständnis darüber verbunden, was es bedeutete, dass Jesus der Messias war.
Auch beim Seewandel war es vermutlich ähnlich. Matthäus berichtete über das Messiasbekenntnis der Jünger, Markus über ihr Unverständnis. Was wie ein Widerspruch aussieht, zeigt nur unterschiedliche Aspekte derselben Situation.