Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was (alles ihm) seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader, […] (Sure 50,16)
Im Beitrag „Was im Koran fehlt“ habe ich auf den in der Bibel zentralen Aspekt hingewiesen, dass Gott Gemeinschaft mit den Menschen haben will, dass er bei und mit uns sein will. Die ewige Gemeinschaft mit Gott bildet auch den Inhalt der christlichen Hoffnung. Es geht nicht um ein Schlaraffenland, in dem der Mensch alle seine Wünsche erfüllt bekommt, sondern um Gott und die ewige Erfüllung durch seine Gegenwart. Gott ist den Seinen aber auch schon in dieser Welt nahe.
Da davon im Koran kaum die Rede ist, weisen Muslime manchmal auf Sure 50,16 hin. Wenn uns Allah näher ist als unsere Halsschlagader, heißt das ja, dass er uns so nahe ist, wie es nur möglich sein kann.
Im Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm heißt es zu Sure 50,16:
Der Erhabene Schöpfer kennt gut Seine Schöpfung. Er kennt das Verborgene und ist dem Menschen noch näher als seine Halsschlagader. Durch diese Erklärung erfahren wir von der engen Beziehung zwischen Allāh (t) und Seinen Geschöpfen. Wir Muslime dürfen unseren Allmächtigen Herrn unmittelbar anrufen und Ihn zu jeder Zeit und in jeder Lage ohne Papst und Priester als „Vermittler und Vertreter Gottes auf Erden“ bitten und anflehen. Dieser Vers korrigiert die falsche Vorstellung über den „unnahbaren und unerreichbaren Gott der Muslime“, die die Kirchenväter und Orientalisten verbreiten.
In der Kritik an einer Vermittlerposition durch Papst und Priester ist den Autoren dieses Textes durchaus zuzustimmen. Zweifellos spricht Sure 50,16 über die Nähe Allahs zu den Menschen.
Doch welcher Art ist diese Nähe? Ein Blick auf den Zusammenhang hilft.
16 Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was (alles ihm) seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader, 17 wo die beiden Empfänger (der Taten) empfangen, zur Rechten und zur Linken sitzend. 18 Kein Wort äußert er, ohne daß bei ihm ein Beobachter bereit wäre. 19 Und es wird die Trunkenheit des Todes mit der Wahrheit kommen: „Das ist das, wovor du auszuweichen pflegtest.“ 20 Und es wird ins Horn geblasen; das ist der angedrohte Tag. 21 Und jede Seele wird kommen und mit ihr ein Treiber und ein Zeuge. 22 „Du warst dessen ja unachtsam. Nun haben Wir deine Decke von dir hinweggenommen, so daß dein Blick heute scharf ist.“ 23 Und sein Geselle wird sagen: „Das ist, was bei mir bereit ist.“ 24 – „Werft, ihr beide, in die Hölle jeden beharrlichen, widerspenstigen Ungläubigen, […] (Sure 50,16-24)
Die „beiden Empfänger (der Taten)“ in Vers 17 werden als zwei Engel gedeutet, die alle Taten eines Menschen aufschreiben. Ihnen entgeht nichts bis zum Tod dieses Menschen, dem sie zugeteilt wurden. Am Tage des Gerichts werden seine Taten gegen ihn sprechen. Allah befiehlt in Vers 24 den beiden Engeln, die Ungläubigen in das Höllenfeuer zu werfen.
Im Zusammenhang geht es um die Kontrolle über den Menschen. Es stellt sich zwar die Frage, warum die Engel alles aufschreiben müssen, wenn Allah ohnehin dem Menschen näher ist als seine Halsschlagader. Der allwissende Gott bräuchte die Engel ja nicht. Aber es ist klar, dass hier nicht von der vertrauten Nähe Gottes die Rede ist. Es geht nicht darum, dass der Mensch bei dem ihm nahen Gott Zuflucht und Hilfe findet, sondern es geht um Beobachtung, Kontrolle und Gericht. So heißt es in einem alten Tafsir:
Wir sind uns seiner bewusster und haben mehr Macht über ihn (als seine Halsschlagader). (Tanwīr al-Miqbās min Tafsīr Ibn ʿAbbās)
Das klingt ganz anders als die Zusage Gottes an sein Volk im Buch Jesaja:
Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen. (Jesaja 43,2)
Es stimmt, dass Gott alles von uns weiß, auch ohne dass Engel Notizen machen. Aber Gott will mehr. Er möchte uns von allem reinigen, was uns von ihm trennt, sodass wir in seiner Nähe unser Glück und die Fülle des Lebens finden. Davon ist in Sure 50,16 keine Rede.
Von einer anderen Ader, der Aorta, ist in Sure 69,46 die Rede. Dort droht Allah Mohammed an, ihm die „Herzader“ zu durchschneiden, wenn er sich einige Aussprüche selber ausgedacht hätte. Tatsächlich hat der Überlieferung zufolge Mohammed vor seinem Tod gesagt:1
[…] ich fühle jetzt, wie mir die Herzader springt […]
Näheres dazu in diesem Beitrag.
Die Schlagadern des Menschen scheinen im Koran weniger für die trostvolle Nähe Allahs zu stehen, sondern für die Nähe des alles kontrollierenden Richters, der auch das Strafgericht vollzieht.
Nein, Sure 50,16 spricht nicht von einem Gott, der den Gläubigen nahe ist, um ihnen in ihren Nöten zu helfen. Diesen Gott finden wir nur in der Bibel. In seinem Sohn Jesus Christus ist er uns besonders nahegekommen. Seinen Jüngern hat er versprochen:
Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters. (Matthäus 28,20b)
- Das Leben Mohammed’s nach Mohammed Ibn Ishak bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischam. Aus dem Arabischen übersetzt von Dr. Gustav Weil, Stuttgart 1864, Zweiter Band, S. 164. ↩