Ja, so spricht der HERR zum Haus Israel: Sucht mich, dann werdet ihr leben! (Amos 5,4)
Der Prophet Amos, der um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. im Nordreich Israel wirkte, hatte seinen Hörern eine Botschaft des Gerichts zu verkünden. In 5,1-3 hat er eine Totenklage angestimmt:
1 Hört dieses Wort, ihr vom Haus Israel, hört die Totenklage, die ich über euch anstimme: 2 Gefallen ist sie und steht nicht wieder auf, die Jungfrau Israel; sie liegt zerschmettert auf ihrem Boden, niemand richtet sie auf. 3 Denn so spricht GOTT, der Herr: Die Stadt, die mit tausend auszieht, behält nur hundert übrig, und die mit hundert auszieht, behält nur zehn übrig für das Haus Israel.
Doch nach dieser Totenklage, die eine militärische Niederlage ankündigt, spricht der Prophet über das Leben, das Gott ihnen schenken will.
Sucht mich, dann werdet ihr leben!
Er sagt aber auch, wo sie nicht suchen sollen:
5 Doch sucht nicht Bet-El auf, geht nicht nach Gilgal, zieht nicht nach Beerscheba! Denn Gilgal droht die Verbannung und Bet-El der Untergang. 6 Sucht den HERRN, dann werdet ihr leben. Sonst dringt er in das Haus Josef ein wie ein Feuer, das frisst, und niemand löscht Bet-Els Brand. (Amos 5,5-6)
Die genannten Orte waren Heiligtümer mit alter Tradition. In Bet-El hatte Jakob Gott verehrt und im Traum die Himmelsleiter gesehen (Genesis 28,11-21). In Gilgal hatten die Israeliten nach dem Durchzug durch den Jordan ihr erstes Pascha im Land Kanaan gefeiert (Josua 5,10-11). In Beerscheba im Süden Judas hatten schon Abraham (Genesis 21,33) und Isaak (Genesis 26,23-25) Gott angerufen.
Doch Gott war an diesen traditionsreichen Orten nicht zu finden. In Bet-El hatte König Jerobeam ein Stierbild (ein „goldenes Kalb“) errichtet, durch das der Gott Israels auf das Niveau eines der Götzen Kanaans erniedrigt wurde (1 Könige 12,28-29). Über die anderen Orte haben wir keine diesbezüglichen Informationen. Doch ist auch für diese Heiligtümer zu befürchten, dass der reine Dienst am HERRN dort nicht mehr gegeben war. So hat Amos auch in Kapitel 4 gesagt:
Kommt nach Bet-El und sündigt, kommt nach Gilgal und sündigt noch mehr! (Amos 4,4a)
Es ging aber nicht nur um die Vermischung des Kultes mit Elementen der kanaanäischen Religion und des Götzendienstes. Es ging auch um das Leben, das ganz und gar nicht den Geboten Gottes entsprach.
Amos klagte:
Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen! (Amos 5,7)
10 Sie hassen den, der im Tor zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie. 11 Weil ihr vom Hilflosen Pachtgeld annehmt und sein Getreide mit Steuern belegt, darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen – und wohnt nicht darin, legt ihr euch prächtige Weinberge an – und werdet den Wein nicht trinken. 12 Denn ich kenne eure vielen Vergehen und eure zahlreichen Sünden. Ihr bringt den Unschuldigen in Not, ihr lasst euch bestechen und weist den Armen ab im Tor. (Amos 5,10-12)
Unterdrückung der Armen und Ungerechtigkeit sind mit dem Dienst an Gott nicht vereinbar. Deswegen heißt Gott suchen immer auch das Gute suchen.
14 Sucht das Gute, nicht das Böse; dann werdet ihr leben und dann wird, wie ihr sagt, der HERR, der Gott der Heerscharen, bei euch sein. 15 Hasst das Böse, liebt das Gute und bringt im Tor das Recht zur Geltung! Vielleicht ist der HERR, der Gott der Heerscharen, dem Rest Josefs dann gnädig. (Amos 5,14-15)
Mit dem „Rest Josefs“ ist das Nordreich gemeint, dessen wichtigsten Stämme Ephraim und Manasse sich von den Söhnen Josefs herleiteten. Das „Tor“ war der Ort der Rechtssprechung.
Wer Gott sucht, sucht das Gute. Er liebt das Gute und hasst das Böse. Sowohl in den Versen 4 und 6 als auch in Vers 14 gibt es die Zusage: Dann werdet ihr leben.
Gottesliebe führt zur Nächstenliebe. Wahre Gottesverehrung führt zu Gerechtigkeit. Der Arme wird nicht unterdrückt, sondern man tut alles, damit auch dem Rechtlosen Recht gesprochen wird. Im Volk Gottes herrscht nicht das Recht des Stärkeren, sondern Sorge füreinander, Achtung und Wertschätzung. Weil es im Reich Israel nicht so wahr, hat Amos den Menschen das Gericht Gottes angekündigt. Die äußere Frömmigkeit, die noch dazu mit götzendienerischen Elementen verbunden war, hat nicht zur Gerechtigkeit geführt. Die Menschen wurden durch sie nicht mit der Heiligkeit Gottes konfrontiert.
Durch Umkehr, durch die Suche Gottes und damit auch des Guten, könnte das Gericht vielleicht abgewendet werden. In 5,15 verwendet Amos das Wort „vielleicht“. Er hat gesehen, wie weit die Gottlosigkeit schon fortgeschritten war. Aber er wollte dem Volk trotzdem noch Hoffnung machen. Auch wenn das Gericht für das Volk insgesamt nicht mehr abwendbar sein sollte, war die Umkehr doch zum Besten des Einzelnen, der sich Gott zugewandt hat.
Es sind nicht Wallfahrten zu „heiligen Orten“, die den Menschen Gott näherbringen, sondern eine tiefe Abkehr von den Sünden, die sich in einem Leben in Gerechtigkeit und Liebe zeigt.
Die Israeliten konnten sich bei Ihren Wallfahrten noch darauf berufen, dass schon ihre Väter an diesen Orten Gott verehrt hatten. Jesus hat uns gelehrt, dass die Verehrung Gottes nicht an bestimmte Orte gebunden ist.
21 Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. […] 23 Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. 24 Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. (Johannes 4,21.23-24)
Wenn Jahrhunderte nach dem Kommen Jesu wieder Wallfahrten eingeführt wurden, die oft mit der unbiblischen Verehrung der Mutter Jesu verbunden sind, wurden nicht nur die Worte Jesu ignoriert. Es wurde auch gegen die warnenden Worte des Propheten Amos gehandelt.
Um Gott zu finden, brauchen wir nicht nach Jerusalem, Rom, Lourdes, Fatima oder Mariazell pilgern. Er lässt sich überall finden, wo sich ein Mensch für ihn öffnet und sich von seinen Sünden reinigen lässt.
6 Sucht den HERRN, er lässt sich finden, ruft ihn an, er ist nah! 7 Der Frevler soll seinen Weg verlassen, der Übeltäter seine Pläne. Er kehre um zum HERRN, damit er Erbarmen hat mit ihm, und zu unserem Gott; denn er ist groß im Verzeihen. (Jesaja 55,6-7)
Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. (Apostelgeschichte 17,27)