Im Buch Genesis wird die Josefsgeschichte in Kapitel 38 durch die Familiengeschichte Judas unterbrochen.
Es ist keine ideale, fromme Welt, die uns in diesem Kapitel begegnet. Juda, der Sohn Jakobs, hatte einen kanaanitischen Freund. Bei ihm lernte er Schua, ebenfalls eine Kanaaniterin, kennen, die er zur Frau nahm. Für Juda war es offensichtlich kein Problem, etwas zu tun, was sein Vater Jakob und sein Großvater Isaak nicht tun sollten (vergleiche Genesis 24,3-4 und 28,1-2). Er hatte keine Berührungsängste mit den Kanaanitern. Durch die fehlende Abgrenzung wurde er in seinem Denken und Handeln beeinflusst. Was Jakob zu dieser Heirat gesagt hat, ist nicht überliefert.
Judas Ehe mit Schua entsprangen drei Söhne. Juda nahm seinem erstgeborenen Sohn Er die Kanaaniterin Tamar zur Frau. Er starb, weil er Gott missfallen hatte, kinderlos. Sein Bruder Onan ging die Schwagerehe (vergleiche Deuteronomium 25,5) mit Tamar ein. Da die Nachkommen aber als Kinder seines verstorbenen Bruders gelten würden, verweigerte er die Fortpflanzung. Das missfiel Gott und er starb. Nach den damaligen Rechtsverhältnissen hätte der dritte Bruder, Schela, Tamar heiraten sollen. Der war aber noch zu jung. Tamar wurde von Juda in ihr Vaterhaus geschickt. Dort sollte sie warten, bis Schela alt genug war. Doch Juda wollte die Ehe zwischen Schela und Tamar vermeiden, weil er um das Leben seines letzten Sohnes fürchtete.
Als Tamar erfuhr, dass Juda, dessen Frau in der Zwischenzeit gestorben war, sich zur Schafschur nach Timna begab, verkleidete sie sich als Prostituierte. Juda erkannte sie nicht und schlief mit ihr. Tamar wurde schwanger. Als Juda das erfuhr, wollte er sie verbrennen lassen. Doch sie konnte mithilfe des von Juda zurückgelassenen Pfandes zeigen, dass sie von ihm schwanger war. Juda sah, dass er im Unrecht war. Tamar schenkte Zwillingen das Leben. Diese wurden gemeinsam mit Schela zu den Stammvätern der Sippen des Stammes Juda, der später zum wichtigsten Stamm Israels werden sollte. Somit wurde Tamar auch zur Stammmutter des Königs David und im rechtlichen Sinn auch des Messias Jesus.
Juda erscheint in dieser Geschichte in einem sehr schlechten Licht. Er heiratet eine Kanaaniterin, gibt auch seinem Sohn eine Kanaaniterin zur Frau. Er verweigert dann seiner Schwiegertochter seinen dritten Sohn, der ihr nach damaligem Recht zustand. Er hatte keine Scheu, zu einer Prostituierten zu gehen. Tamar muss das geahnt haben. Sonst wäre sie nicht auf die Idee gekommen, sich als Prostituierte auszugeben, als er am Weg vorbeikam. Danach war er aber sehr streng und wollte seine Schwiegertochter sogar zum Tod verurteilen. Dieser Mann war wahrlich kein Vorbild für seine Nachkommen. Kein Volk erfindet eine derartig negative Geschichte über seinen Stammvater.1 Jedes Volk will seine Vorfahren oder Gründerväter möglichst positiv und als Vorbilder darstellen. Wir müssen daher davon ausgehen, dass die erzählten Begebenheiten sich im Wesentlichen so zugetragen haben.
Das Verhalten Tamars ist nicht so negativ zu beurteilen wie das ihres Schwiegervaters. Es ging ihr nicht um die sexuelle Lust, sondern nach damaligem Verständnis um Gerechtigkeit. Juda musste das eingestehen:
Sie ist mir gegenüber im Recht, weil ich sie meinem Sohn Schela nicht zur Frau gegeben habe. (Genesis 38,26)
Was nicht im Text steht, aber wohl auch mitgespielt hat, war, dass sie die Schmach der Kinderlosigkeit von sich abwenden wollte.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ihr Verhalten nach dem Maßstab Gottes richtig war. Es ist auch ihr kanaanitischer Hintergrund zu berücksichtigen.
Später wird Tamar in einem Zusammenhang mit Rahel und Lea den Stammmüttern Israels genannt. In Rut 4,11-12 heißt es, als Boas Rut zur Frau nahm:
11 Da antwortete das ganze Volk im Tor samt den Ältesten: Wir sind Zeugen. Der HERR mache die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea, die zwei, die das Haus Israel aufgebaut haben. Handle tüchtig in Efrata und komm zu Ansehen in Betlehem! 12 Dein Haus gleiche dem Haus des Perez, den Tamar dem Juda geboren hat, durch die Nachkommenschaft, die der HERR dir aus dieser jungen Frau geben möge.
Die Familiengeschichte Judas zeigt, dass es in der Bibel nicht darum geht, Menschen zu verherrlichen oder zu idealisieren. Die Sündhaftigkeit der Stammväter wird offengelegt. Das Volk Israel ist nicht das Werk dieser sündhaften Menschen. Es ist das Werk Gottes, der sein Volk trotz der Sündhaftigkeit der Menschen baut. Alles, was Gottes Volk an Gutem hat, hat es von Gott, der trotz der Sünden an seinem Volk arbeitet, um es nach seinem Willen zu verändern. Die Ehre gebührt Gott, nicht den Menschen.
Dass die Geschichte Judas und Tamars im Volk Israel noch vor der Niederschrift jahrhundertelang mündlich überliefert wurde, zeigt auch, dass die Israeliten und der Stamm Juda die schändlichen Ereignisse aus der Zeit ihrer Anfänge nicht verstecken wollten. Juda war für sie in diesen Punkten kein Vorbild, sondern eine beständige Mahnung, seinem Beispiel nicht zu folgen. Sie bekannten sich zu dieser Vergangenheit. Gerade das zeigt auch, dass Gott an und in diesem Volk wirkte.
Gott hat trotz dieses sündigen Anfangs des Stammes Juda diesen Stamm zum führenden Stamm Israels gemacht. Tamar wurde zur Stammmutter Davids, dessen Sünden die Bibel auch nicht verschweigt. Möglicherweise hat David seine Tochter ihretwegen Tamar genannt (2 Samuel 13,1). Diese Tamar hatte leider auch ein schlimmes Schicksal zu erleiden, als sie von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt wurde (2 Samuel 13,1-22).
Tamar wurde auch zur Stammmutter des Messias. Sie ist eine der vier alttestamentlichen Frauen, die im Stammbaum Jesu genannt werden.
Juda zeugte den Perez und den Serach mit der Tamar. Perez zeugte den Hezron, Hezron zeugte den Aram, […] (Matthäus 1,3)
Gott hat im Rahmen der von sündigen Menschen gestalteten Geschichte auf das Ziel hingewirkt, dass er seinen ewigen Sohn in diese Welt senden konnte. Er ist für alle Menschen gekommen, nicht nur für Israel. Das wird auch durch die nicht-israelitischen Frauen in seinem Stammbaum ausgedrückt. Er ist gekommen, um die Menschen von ihren Sünden zu befreien. Die Sünden Judas und anderer Vorfahren Jesu haben das Werk Gottes nicht verhindern können. Jetzt schenkt er allen Menschen die Möglichkeit, die Erlösung von den Sünden anzunehmen.
Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. (Matthäus 1,21)