Die „Gotteslästerung“ Jesu

61 Er aber schwieg und gab keine Antwort. Da wandte sich der Hohepriester nochmals an ihn und fragte: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? 62 Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen. 63 Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Wozu brauchen wir noch Zeugen? 64 Ihr habt die Gotteslästerung gehört. Was ist eure Meinung? Und sie fällten einstimmig das Urteil: Er ist des Todes schuldig. (Markus 14,61-64)

Nachdem die vor dem jüdischen Hohen Rat gegen Jesus geführte Verhandlung aufgrund der mangelnden Übereinstimmung unter den Zeugen und des Schweigens Jesu ins Stocken geraten war, fragte der Hohepriester Kajaphas Jesus direkt, ob er der Messias sei. Die Antwort Jesu wurde vom Hohepriester als Gotteslästerung gewertet. Der Hohe Rat stimmte zu und verurteilte Jesus zum Tode.

Nach Levitikus 24,16 musste Gotteslästerung mit dem Tod bestraft werden:

Wer den Namen des HERRN schmäht, hat den Tod verdient; die ganze Gemeinde wird ihn steinigen. Das gilt für den Fremden ebenso wie für den Einheimischen: Wenn er den Gottesnamen schmäht, wird er getötet werden.

Die Strafe der Steinigung war im Falle Jesu nicht möglich, da die Juden nicht das Recht hatten, jemanden hinzurichten. Darum wurde Jesus anschließend dem römischen Statthalter übergeben, der ihn (allerdings aus einem anderen Grund) zum Tod am Kreuz verurteilen sollte.

Für Kajaphas und den Hohen Rat war es offensichtlich, dass Jesus Gott gelästert hat und dafür den Tod verdient hat. Doch worin bestand die Lästerung?

Hat Jesus durch seine vor dem Hohen Rat gesprochenen Worte den Namen des HERRN geschmäht?

Es gab während des öffentlichen Wirkens Jesu mehrere Situationen, in denen Jesus den Anspruch erhoben hat, Gott zu sein (vergleiche hier, hier und hier). Vermutlich gab es für diese Fälle ebenso wie bei dem Vorwurf, dass Jesus den Tempel zerstören wolle, zu wenig Übereinstimmung unter den Zeugen, sodass diese vergangenen Worte Jesu nicht angeführt werden konnten. Diese Worte hätte man leichter als Lästerung interpretieren können, was in Johannes 10,33 auch ausdrücklich gesagt wurde.

Der Hohepriester hatte Jesus gefragt, ob er der Christus (= Messias) sei. Jesus hat das bejaht und in Vers 62 noch näher ausgeführt.

Die Frage, ob er der Sohn des Hochgelobten sei, ist gleichbedeutend mit der Frage nach der Messianität. Dem Alten Testament zufolge war der Messias der Sohn Gottes. So heißt es in Psalm 2,7:

Den Beschluss des HERRN will ich kundtun. Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Ich selber habe dich heute gezeugt.

Es ging dabei nicht darum, dass der Messias wesensgleicher Sohn Gottes sein sollte. Der erwartete Messias war für die Juden nur ein Mensch. Der Titel „Sohn Gottes“ sollte seine besondere Nähe zu Gott ausdrücken. So hat das der Hohepriester in seiner Fragestellung auch gemeint. „Der Sohn des Hochgelobten“ war ein anderer Ausdruck für den Messias.

Als im 2. Jahrhundert Simon bar Kochba als Messias auftrat, wurde ihm das nicht zum Vorwurf gemacht. Rabbi Akiba, der ihn als Messias betrachtete, blieb auch nach dem Misserfolg dieses „Messias“ ein geachteter Rabbi.

Gegen diesen Vergleich wurde eingewandt,1 dass es im 2. Jahrhundert unter den Juden bereits einen engeren Begriff der Gotteslästerung gab als zur Zeit Jesu.

Außerdem entsprach dieser Revolutionsheld [Bar Kochba] in geradezu idealer Weise dem politisch-kämpferischen Messiasbild der landläufigen jüdischen Erwartung, während Jesus als der vollendete Widerspruch zu diesem Bild erscheinen musste. […]
Das Judentum erwartete vom Messias, daß er sich als solcher legitimieren werde. Ein gefangener, von seinen Freunden verlassener, ohnmächtig der Gewalt seiner Gegner ausgelieferter Messias — das war für sie eine unvollziehbare Vorstellung. Ein Mensch, der in solcher Lage sich als Messias, als Inhaber der höchsten von Gott einem Menschen zu übertragenden Würde, ausgab, der mußte in ihren Augen ein Frevler sein, der die großen Verheißungen Gottes an sein Bundesvolk bewußt zu verhöhnen wagte. Wenn dieses Urteil noch nicht identisch sein sollte mit dem Vorwurf der Gotteslästerung, so liegt dazwischen jedenfalls nur ein ganz kleiner Schritt, den zu gehen ein Forum um so weniger Hemmungen hatte, je mehr es gegen jenen Menschen von vornherein eingenommen war. (Blinzler S. 155f)

Nach diesem Verständnis hätte bereits der Anspruch Jesu, der Messias zu sein, genügt, ihn wegen Gotteslästerung zum Tode zu verurteilen. Da der Hohepriester und auch die Mehrheit des Hohen Rates keineswegs um Neutralität und Gerechtigkeit bemühte Richter waren, sondern ausgesprochene Feinde Jesu, die ihn beseitigen wollten, ist das ein durchaus überlegenswerter Gedanke.

Es gibt aber noch weitere Aspekte, die berücksichtigt werden müssen.

In seiner Antwort verknüpft Jesus zwei Worte des Alten Testaments.

So spricht der HERR zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten und ich lege deine Feinde als Schemel unter deine Füße. (Psalm 110,1)

Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen: Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. (Daniel 7,13)

Die Worte Jesu in Markus 12,35-37 setzen voraus, dass Psalm 110 damals unter den Juden auf den Messias bezogen wurde. Darin dürften der Hohepriester und die Mitglieder des Hohen Rates neben den von Blinzler geäußerten Gedanken keinen weiteren Grund gesehen haben, diese Worte als Lästerung zu betrachten.

Etwas anders ist die Situation bei Daniel 7. Hier gibt es folgende Punkte, die das göttliche Wesen des Menschensohns anklingen lassen.2

  • Er kam mit den Wolken des Himmels und wurde vor ihn geführt. Die Wolken stellen in der poetischen Sprache des Alten Testaments sonst das „Transportmittel“ Gottes dar, z. B. in Exodus 13,2134,5Psalm 18,10104,3Ezechiel 1,4. Das kann als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass der Menschensohn göttlichen Wesens ist.
  • In Vers 14 empfängt er Ehre, die nur Gott gebührt. Im aramäischen Text steht für das Wort „dienen“ פְלַח / pelach, ein Wort, das im Bibelaramäischen nur für den Dienst an Gott (oder Göttern) verwendet wird. In der griechischen Übersetzung steht das Verb λατρεύω / latreúō, das ebenfalls Dienst an Gott meint.
  • Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft. Auch das weist darauf hin, dass er mehr als ein Mensch ist. Es geht nicht um die zeitlich begrenzte Dauer eines irdischen Herrschers.

Auch wenn wir im Detail nicht wissen, wie der sadduzäische Hohepriester und die übrigen Mitglieder des Hohen Rats die Danielstelle verstanden haben, dürften diese Punkte es ihnen leichter gemacht haben, die Worte Jesu als Gotteslästerung zu verstehen. Sie waren ohnehin darauf erpicht, etwas gegen Jesus in der Hand zu haben.

Da Jesus tatsächlich derjenige ist, von dem Psalm 110 und Daniel 7 sprechen, waren seine Worte natürlich keinesfalls eine Gotteslästerung. Hätten die jüdischen Führer ein offenes Herz für Gottes Wirken gehabt, hätten sie all sein Tun und all seine Worte tiefer verstanden und sie wären nicht über Gottes Sohn zu Gericht gesessen, sondern sie hätten sich vor ihm gebeugt.

Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.
(Daniel 7,14)


  1. Josef Blinzler, Der Prozess Jesu, 4. Aufl., Regensburg 1969, S. 152-157. 
  2. Ich habe diese Punkte aus dem Beitrag „Die Dreieinigkeit in Daniel 7?“ übernommen. 

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