Matthäus und Markus berichten über falsche Zeugen, die vor dem Hohen Rat bei der Verhandlung gegen Jesus ausgesagt haben.
55 Die Hohepriester und der ganze Hohe Rat bemühten sich um Zeugenaussagen gegen Jesus, um ihn zum Tod verurteilen zu können; sie fanden aber nichts. 56 Viele machten zwar falsche Aussagen gegen ihn, aber die Aussagen stimmten nicht überein. 57 Einige der falschen Zeugen, die gegen ihn auftraten, behaupteten: 58 Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschenhand gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand gemacht ist. 59 Aber auch in diesem Fall stimmten die Aussagen nicht überein. 60 Da stand der Hohepriester auf, trat in die Mitte und fragte Jesus: Willst du denn nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen? 61 Er aber schwieg und gab keine Antwort. (Markus 14,55-61a)
Im Matthäusevangelium lautet der Vorwurf der falschen Zeugen etwas anders:
Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen. (Matthäus 26,61)
Bei den Versionen „Ich kann“ und „Ich werde“ handelt es sich wahrscheinlich nur um unterschiedliche Übersetzungen derselben semitischen Wendung im „Imperfekt“. Wenn Markus schreibt, dass die Aussagen der Zeugen nicht übereinstimmten, dürfte das nicht der Punkt gewesen sein, in dem es Differenzen gab. Markus erwähnt die Widersprüche in ihrem Zeugnis nicht.
Jesus hat zu den Vorwürfen gegen ihn geschwiegen. Es ging ihm nicht darum, sich zu verteidigen. Er wusste, dass seine Gegner es darauf angelegt hatten, ihn zu töten, und er hat den Weg des Leidens und des Todes aus der Hand seines Vaters angenommen.
Worin bestand das falsche Zeugnis gegen Jesus? War es nur von der Motivation der Zeugen her falsch, denen es nicht um die Wahrheit ging, sondern darum, Jesus zu Tode zu bringen?
Weder Markus noch Matthäus versuchten zu erklären, was falsch an den Worten der Zeugen war. Aufgrund der Widersprüche zwischen ihren Aussagen konnte der Hohe Rat damit ohnehin kein Urteil begründen. Somit war es für die Evangelisten nicht so wichtig, auf diesen Vorwurf der Zeugen einzugehen.
Die Worte Jesu, auf die sich die Zeugen beriefen, lesen wir im Johannesevangelium im Zusammenhang mit der Tempelreinigung am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu.
Nachdem Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben hatte, heißt es:
18 Da ergriffen die Juden das Wort und sagten zu ihm: Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. (Johannes 2,18-19)
Jesus hat nicht gesagt, dass er diesen Tempel niederreißen kann oder wird. Er hat nur davon gesprochen, dass er ihn wieder aufrichten wird, wenn die jüdischen Führer ihn niederreißen werden. Der Imperativ („Reißt!“) ist hier nicht als eine Aufforderung zu verstehen, sondern im Sinne: „Wenn ihr den Tempel niederreißt, dann …“
Johannes setzt fort:
20 Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? 21 Er aber meinte den Tempel seines Leibes. (Johannes 2,20-21)
Johannes stellte klar, dass es nicht um den aus Steinen gebauten Tempel ging, sondern um den Leib Jesu. Das konnte allerdings in der damaligen Situation niemand verstehen.
Die Auferstehung Jesu war tatsächlich das Zeichen, dass er von Gott die Vollmacht hatte, nach der er befragt wurde. Jesus hat beansprucht, mehr als der Tempel zu sein.
Ich sage euch: Hier ist Größeres als der Tempel. (Matthäus 12,6)
Das Wort Jesu in Johannes 2,19 war aber nicht ohne Bezug zum Tempel in Jerusalem. Da Johannes sein Evangelium noch vor der Zerstörung des Tempels geschrieben hat, sah er die Bedeutung dieses Wortes im Hinblick auf den Tempel des Leibes Jesu, der am Kreuz niedergerissen, aber von ihm in der Auferstehung wieder aufgerichtet wurde.
Durch die Ablehnung des Messias, die in der Tötung Jesu ihren Höhepunkt fand, haben die jüdischen Führer auch die Grundlage für die Zerstörung des „von Menschenhand gemachten“ Tempels gelegt. Die Ablehnung des geistlichen Gottesreichs, das Jesus verkündet hatte, führte zu einem gesteigerten religiösen Nationalismus, der schließlich zum Jüdischen Krieg führte, zu dessen Ausbruch freilich auch die Römer durch verschiedene Provokationen beigetragen haben. Dieser Krieg endete mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels.
In der Auferstehung Jesu lag auch die Grundlage für die Errichtung des Neuen Tempels. Der Leib Christi ist einerseits sein Auferstehungsleib. Im weiteren Sinne ist die Gemeinde der Jünger Jesu sein Leib, an dem jeder Jünger ein Glied ist.
Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm. (1 Korinther 12,27)
Dieser Leib Christi ist auch der Tempel Gottes.
21 In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. 22 Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist miterbaut. (Epheser 2,21-22)
So hat Jesus den Tempel Gottes in seiner Auferstehung und in der Gemeinde, die ihren Ursprung letztlich auch in seiner Auferstehung hat, neu errichtet. Er hat den Tempel Gottes nicht zerstört, wie es ihm die falschen Zeugen als Absicht unterstellt haben. Er hat gebaut und baut weiter.