Zur Entrückung der Gläubigen

In vielen Gruppierungen, die sich selbst als evangelikal oder der Pfingstbewegung zugehörig bezeichnen, gibt es die Vorstellung, dass Jesus schon vor seiner Wiederkunft die wahren Gläubigen aus dieser Welt zu sich in die Luftbereiche entrücken würde. Während die Gläubigen von dieser Welt verschwinden, bleiben die übrigen Menschen zurück, um die Schrecken der Großen Drangsal zu durchleiden. Allerdings gibt es hier verschiedene Vorstellungen über den Zeitpunkt der Entrückung. Manche nehmen an, dass diese vor dem Ausbruch der Drangsal geschieht, da Gott seine Kinder davor bewahren will. Andere Ausleger denken an eine Entrückung während der Drangsal, wieder andere denken, dass diese erst am Ende der Drangsal geschieht.

Diese Lehre ist innerhalb der Kirchengeschichte erst relativ spät bezeugt. Sie geht in ihren Grundzügen vor allem auf John Nelson Darby (1800-1882), einem der Begründer der Brüdergemeinden, zurück. Dass diese Lehre in früheren Jahrhunderten unbekannt war, sollte zumindest zu denken geben, auch wenn wir leider davon ausgehen müssen, dass die offizielle Kirche schon relativ früh vom Weg Jesu Christi abgewichen ist.

Zur Begründung der Lehre der Entrückung werden vor allem zwei Bibelstellen angeführt, die ich näher betrachten möchte.

Matthäus 24,40-41

Zum besseren Verständnis zitiere ich diese Verse im weiteren Kontext.

37 Denn wie es in den Tagen des Noach war, so wird die Ankunft des Menschensohnes sein. 38 Wie die Menschen in jenen Tagen vor der Flut aßen und tranken, heirateten und sich heiraten ließen, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, 39 und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. 40 Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. 41 Und von zwei Frauen, die an derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen. 42 Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. 43 Bedenkt dies: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. 44 Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Matthäus 24,37-44)

Das Hauptanliegen Jesu wird in den Versen 42 und 44 ausgedrückt. Es geht um Wachsamkeit und Bereitschaft für das Kommen des Menschensohns, der zu einer Stunde kommen wird, in der es nicht erwartet wird.

Jesus hat sein Kommen mit der Zeit Noachs verglichen, als die Menschen ihren irdischen Tätigkeiten nachgingen, die in sich nicht böse, ja sogar notwendig sind, aber nicht den Lebensinhalt ausmachen dürfen. Wenn es nur um Essen, Trinken und Heiraten geht, aber Gott von der Lebensgestaltung ferngehalten wird, wird man taub für seine Warnungen und vom Gericht überrascht.

So sollen Jesu Jünger nicht sein. Wer den Worten Jesu gehorcht, wird nicht dem Gericht verfallen. Den Arbeitskollegen bei der Feldarbeit, für den Gott nicht wichtig ist, wird das Gericht aber treffen. Da ist keine Rede davon, dass einer der beiden plötzlich verschwindet. Einer wird gerettet, weil er seinem Herrn treu gedient hat. Der andere, der entweder die ihm von Jesus geschenkte Rettung nie angenommen hat oder nicht in der Treue verblieben ist, geht verloren.

Diese Warnung passt sowohl auf das Gericht über Jerusalem, dem Hauptthema von Matthäus 24, als auch zum Kommen Jesu am Ende der Zeit. Nach der Darstellung von Eusebius1 haben die Christen aufgrund eines prophetischen Wortes Jerusalem schon vor Ausbruch des Jüdischen Krieges verlassen. Sie haben auf das Wort Gottes gehört und wurden vor dem Gericht bewahrt. Am Ende der Zeit werden die treuen Gläubigen gerettet werden. Die anderen Menschen werden von Jesus gerichtet werden. Darum gilt es wachsam zu sein und Gott treu zu bleiben.

Von einer doppelten Wiederkunft am Ende der Zeit ist hier nicht die Rede. Jesus hat nicht gesagt, dass er zuerst nur bis in die Luftbereiche kommt, um die Jünger zu sich zu holen und erst irgendwann später für die ganze Welt.

1 Thessalonicher 4,16-17

13 Brüder, wir wollen euch über die Entschlafenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben. 14 Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott die Entschlafenen durch Jesus in die Gemeinschaft mit ihm führen. 15 Denn dies sagen wir euch nach einem Wort des Herrn: Wir, die Lebenden, die noch übrig sind bei der Ankunft des Herrn, werden den Entschlafenen nichts voraushaben. 16 Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen; 17 dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt zur Begegnung mit dem Herrn. Dann werden wir immer beim Herrn sein. 18 Tröstet also einander mit diesen Worten! (1 Thessalonicher 4,13-18)

Das Hauptthema ist die Frage, ob die verstorbenen („entschlafenen“) Christen beim Kommen des Herrn einen Nachteil erleiden würden. Vermutlich hat sich diese Frage in der jungen Gemeinde von Thessalonich deswegen gestellt, weil jemand aus der Gemeinde gestorben ist. Die Antwort von Paulus ist eindeutig: Es gibt keinen Nachteil für die bereits Verstorbenen. Die verstorbenen und noch lebenden Christen werden dem Herrn gemeinsam begegnen. Wenn Paulus in den Versen 14 und 17 die Formulierung „Wir, die Lebenden, die noch übrig sind“ verwendet, heißt das nicht zwangsläufig, dass er damit gerechnet hat, bei der Wiederkunft Jesu noch auf der Erde zu leben. Da er, als er den Brief schrieb, am Leben war, hat er sich in diese Gruppe inkludiert. Man kann seine Formulierung auch so verstehen: „Wir, die Lebenden, sofern wir dann noch übrig bleiben.“2 Nach diesem Verständnis würde sich Paulus nicht festlegen, zu welcher Gruppe er gehört.

Paulus verwendet das Bild der Wolke, das er dem Alten Testament entnommen hat, vermutlich verweist er auch auf die damalige Praxis bei Besuchen hoher Beamter oder des Kaisers. Die Wolke ist ein Symbol für die Gegenwart Gottes. Als Gott auf den Sinai herabgestiegen war, lagen Wolken am Berg (Exodus 19,16). Bei der Einweihung des Tempels erfüllte die Wolke das Haus des HERRN (1 Könige 8,10-11). Jesus wurde bei seiner Himmelfahrt in eine Wolke aufgenommen (Apostelgeschichte 1,9). Darum verwendet Paulus auch hier das Bild der Wolke für die Begegnung mit dem Herrn.

In der Antike war es üblich, wenn sich hoher Besuch angekündigt hatte, dass ihm Abgesandte der Stadt entgegenzogen und den Kaiser oder hohen Beamten in die Stadt geleiteten. So kommen die Gläubigen dem wiederkommenden Herrn entgegen, um ihn in seiner Wiederkunft zu begleiten. Hier ist aber an keinen mehrjährigen Aufenthalt außerhalb der Welt gedacht, durch den die Gläubigen vor einer Drangsal bewahrt werden sollten.

Die Formulierungen, die Paulus verwendet, erinnern an 1 Korinther 15,51-53:

51 Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – 52 plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden als Unverwesliche auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. 53 Denn dieses Verwesliche muss sich mit Unverweslichkeit bekleiden und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit.

Auch hier schreibt er über die Auferstehung der Toten als Unverwesliche und die Verwandlung der noch lebenden Gläubigen. Auch hier schreibt er über den Posaunenschall. Im Zusammenhang geht es aber nicht um irgendeine Zwischenstation, sondern um den endgültigen Sieg Christi.

Die Posaune kommt auch in Matthäus 24,31 im Zusammenhang mit der Wiederkunft Christi vor.

Zum Verständnis von 1 Thessalonicher 4 sollten wir den Blick auch auf die Anfangsverse des 5. Kapitels lenken.

1 Über Zeiten und Stunden, Brüder, brauche ich euch nicht zu schreiben. 2 Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. 3 Während die Menschen sagen: Friede und Sicherheit!, kommt plötzlich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau und es gibt kein Entrinnen. 4 Ihr aber, Brüder, lebt nicht im Finstern, sodass euch der Tag nicht wie ein Dieb überraschen kann. (1 Thessalonicher 5,1-4)

Für die (ungläubigen) Menschen kommt das Verderben ganz plötzlich, weil sie nicht vorbereitet sind. Die Brüder aber leben nicht im Finstern, darum kann der Tag sie nicht wie ein Dieb überraschen. Der Tag kommt aber für die Ungläubigen und die Gläubigen zugleich. Der Unterschied besteht nicht darin, dass die Gläubigen schon vorher entrückt worden wären, sondern darin, dass sie nicht im Finstern leben und daher vom Tag des Herrn nicht überrascht werden können.

Wenn Paulus sich selbst nicht innerhalb weniger Verse widerspricht, dann hat die Entrückungslehre keine Basis in 1 Thessalonicher 4.

Bibelstellen, die eine vorzeitige Entrückung der Gläubigen ausschließen

Matthäus 13,41

40 Wie nun das Unkraut aufgesammelt und im Feuer verbrannt wird, so wird es auch bei dem Ende der Welt sein: 41 Der Menschensohn wird seine Engel aussenden und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gesetzloses getan haben, 42 und werden sie in den Feuerofen werfen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. 43 Dann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten. Wer Ohren hat, der höre! (Matthäus 13,40-43)

In der Erklärung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen kommt es zur Trennung zwischen den Gerechten und Gesetzlosen ganz zum Schluss. Diesen Versen könnte man auch eine „Entrückung“ entnehmen. Aber in diesem Fall sind es die Gesetzlosen, die aus dem Reich des Menschensohnes herausgeholt, also „entrückt“ werden. Wir finden hier ein Bild der Trennung zwischen den Guten und den Bösen, nicht aber eine Beschreibung, wie das genau geschehen wird. Diese Trennung gibt es beim Endgericht, nicht durch eine vorzeitige Entrückung der Jünger Jesu.

Johannes 5,28-29

28 Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen.

Jesus spricht hier über die gleichzeitige Auferstehung derer, die das Gute getan haben und derer, die das Böse getan haben. Die Auferstehung zum Leben und die Auferstehung zum Gericht sind nicht getrennte Ereignisse. Es ist die „Stunde“, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören. Diese Worte Jesu lassen keinen Raum für eine vorzeitige Entrückung der Gläubigen.3


Die Entrückungslehre kann biblisch nicht begründet werden. Die dafür angeführten Bibelstellen lehren die Entrückung nicht. Andere Stellen lassen für sie keinen Raum. Wir sollen uns nicht in Endzeitspekulationen ergehen, sondern die Worte Jesu beachten:

Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Matthäus 24,44)

Dabei geht es nicht nur um sein Kommen am Ende der Geschichte. Sterben können wir jeden Tag.


  1. Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte III, 5
  2. Norbert Baumert, Maria-Irma Seewann, In der Gegenwart des Herrn, Würzburg 2014, S. 64. 
  3. Ich gehe hier nicht auf die Problematik von Zeit und Ewigkeit ein, die sich im Zusammenhang mit der Auferstehung stellt. Einige Gedanken dazu gibt es unter der Überschrift „Zeit und Ewigkeit“ im Beitrag über Mariä Himmelfahrt

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