Besessenheit oder Krankheit?

In den drei synoptischen Evangelien lesen wir immer wieder, dass Jesus Dämonen aus Menschen ausgetrieben hat. Heute wird oft angenommen, dass es sich dabei um Heilungen von Krankheiten handelte, die von den Menschen damals aber als Besessenheit betrachtet wurden. Mit Dämonen habe das nichts zu tun gehabt. Es könne sich um psychische Störungen gehandelt haben, manchmal auch um körperliche Krankheiten, die als Wirkung eines Dämons betrachtet wurden.

So berichtet Matthäus über einen Besessenen, der blind und stumm war:

Dann brachte man zu ihm einen Besessenen, der blind und stumm war. Er heilte ihn, sodass der Stumme wieder reden und sehen konnte. (Matthäus 12,22)

In der Parallele bei Lukas wird nicht der Besessene, sondern der Dämon stumm genannt:

Jesus trieb einen Dämon aus, der stumm war. Es geschah aber: Als der Dämon ausgefahren war, da konnte der Mann reden. Alle Leute staunten. (Lukas 11,14)

Über einen weiteren stummen Besessenen lesen wir in Matthäus 9,32-33:

32 Als sie gegangen waren, siehe, da brachte man einen Stummen zu ihm, der von einem Dämon besessen war. 33 Er trieb den Dämon aus und der Stumme konnte reden. Alle Leute staunten und sagten: So etwas ist in Israel noch nie gesehen worden.

Dass Stummheit nicht grundsätzlich auf Dämonen zurückgeführt wurde, können wir Markus 7,31-37 entnehmen, wo ein Taubstummer geheilt wurde, ohne dass von Dämonen oder Besessenheit die Rede gewesen wäre.

Ein Fall von Besessenheit, der oft als Epilepsie verstanden wird, steht in Markus 9,14-29 (Parallelen in Matthäus 17,14-18; Lukas 9,37-42).

Nach Markus schildert der Vater die Leiden seines Sohnes so:

Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht. Er ist von einem stummen Geist besessen; 18 immer wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr. (Markus 9,17b-18)

Zur Schilderung der Symptome gehören auch noch diese Verse:

Sobald der Geist Jesus sah, zerrte er den Jungen hin und her, sodass er hinfiel und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte. 21 Jesus fragte den Vater: Wie lange hat er das schon? Der Vater antwortete: Von Kind auf; 22 oft hat er ihn sogar ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. (Markus 9,20b-22a)

25 Als Jesus sah, dass die Leute zusammenliefen, drohte er dem unreinen Geist und sagte: Ich befehle dir, du stummer und tauber Geist: Verlass ihn und kehr nicht mehr in ihn zurück! 26 Da zerrte der Geist den Knaben hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Er lag da wie tot, sodass alle Leute sagten: Er ist gestorben. (Markus 9,25-26)

In Matthäus ist die Beschreibung der Symptome kürzer, aber es wird noch ein zusätzlicher Aspekt genannt:

Herr, hab Erbarmen mit meinem Sohn! Er ist mondsüchtig und hat schwer zu leiden. Oft fällt er ins Feuer und oft ins Wasser. (Matthäus 17,15)

Der Vater nennt seinen Sohn mondsüchtig, sagt aber nichts von einem Dämon oder bösen Geist.

Hier noch die Darstellung der Symptome nach Lukas:

Siehe, ein Geist packt ihn, dass er plötzlich aufschreit, zerrt ihn hin und her und lässt ihn schäumen und der Geist quält ihn fast unaufhörlich. (Lukas 9,39)

Als der Sohn herkam, warf der Dämon ihn zu Boden und zerrte ihn hin und her. Jesus aber drohte dem unreinen Geist, heilte den Knaben und gab ihn seinem Vater zurück. (Lukas 9,42)

Da ich ein medizinischer Laie bin, werde ich keine Diagnose erstellen, möchte aber keinesfalls ausschließen, dass es sich tatsächlich um Epilepsie handelte.

In der Elberfelder Bibel trägt der Abschnitt in allen drei Evangelien die Überschrift „Heilung eines Fallsüchtigen“, womit Epilepsie gemeint sein könnte. Auf jeden Fall wird hier die Heilung einer Krankheit in den Fokus gerückt und nicht so sehr die Austreibung eines bösen Geistes.

Interessant ist, dass nach Matthäus der Vater nichts von einem bösen Geist gesagt hat, dass aber Jesus einen Dämon ausgetrieben hat.

Haben wir es nun in den genannten Fällen mit Krankheiten oder Besessenheit zu tun?

Es ist durchaus vorstellbar, dass die Zeitgenossen Jesu manche Krankheiten, die für sie schwer erklärbar waren, irrtümlicherweise auf böse Geister zurückgeführt haben. Doch wie war das bei Jesus? Sollen wir auch bei Jesus annehmen, dass er als Kind seiner Zeit manche Krankheiten als Besessenheit betrachtete, obwohl es sich nach dem heutigen Wissensstand um natürlich erklärbare Krankheiten handelte? Oder hat Jesus gewusst, dass diese Krankheiten eine natürliche Ursache hatten und hat sich in seinem Verhalten an den Volksglauben angepasst?

Jesus war in seiner Erniedrigung nicht allwissend. Er hat sich in seiner Menschwerdung selbst entäußert (Philipper 2,7) und hatte in profanen Dingen das Wissen, das ein Mensch seiner Zeit haben konnte. Jesus wusste in seinem irdischen Leben wohl nichts über die Existenz von Amerika oder Australien. So könnte man meinen, dass er auch nicht wusste, dass diese Krankheiten nicht durch Dämonen verursacht waren.

Doch in dieser Frage geht es nicht um profanes Wissen, sondern um eine geistliche Beurteilung. Jesus hat zwischen gewöhnlichen Krankheiten und Dämonen unterschieden. Wenn Besessenheit vorlag, hat er den Dämonen befohlen, die Menschen zu verlassen. Andere Kranke hat er berührt, Besessene nicht.

So heißt bei dem Taubstummen in Markus 7:

32 Da brachten sie zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen. 33 Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; 34 danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu ihm: Effata!, das heißt: Öffne dich! (Markus 7,32-34)

So etwas lesen wir im Zusammenhang von Dämonenaustreibungen nicht. Jesus hat den Dämonen befohlen und sie bedroht. Er drückte auf diese Weise seine Distanz zu den bösen Mächten aus.

Dass Jesus nur, um den Dämonenglauben der Menschen nicht infrage zu stellen, so getan hätte, als ginge es um eine Besessenheit, würde bedeuten, dass Jesus die Menschen bewusst in der Finsternis des Irrtums gelassen hätte. Hätte er ihren Dämonenglauben als falsch gesehen, dann hätte er die „Besessenen“ bewusst so heilen können wie andere Kranke und die Menschen auf ihren Irrglauben aufmerksam machen können. Auf keinen Fall hat Jesus den Leuten ein frommes Theater vorgespielt.

In Matthäus 12,24-30 lesen wir über ein Streitgespräch zwischen Jesus und den Pharisäern, die Jesus vorwarfen, dass er die Dämonen durch Beelzebul austrieb. Da hätte Jesus ganz einfach sagen können, dass er nur die Kranken geheilt hat und dass es gar nicht um Dämonen ging. Er hat das nicht getan, sondern:

Wenn ich aber im Geist Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen. (Matthäus 12,28)

Die Dämonenaustreibungen waren ein Zeichen seines Sieges über Satan.

Besessenheit und Krankheit konnten durchaus gemeinsam auftreten, wobei die Besessenheit den geistlichen Hintergrund der Krankheit darstellte.

Wenn es im Deutschen heißt, dass jemand von einem Dämon „besessen“ war, steht im Griechischen das Partizip δαιμονιζόμενος / daimonizómenos („dämonisiert“, unter dem Einfluss eines Dämonen stehend). In Markus 9,17 steht, dass er einen stummen Geist hatte. Das Wort „besessen“ in dem Sinn, dass ein Dämon von jemandem Besitz ergriffen hätte, ist dort nicht zu finden. Böse Geister, d. h. von Gott abgefallene Geistwesen, übten in einer gewissen Weise Einfluss auf manche Menschen aus. Wie es zu diesem Einfluss kam, wird in der Bibel an keiner Weise beschrieben.

Das muss nicht bedeuten, dass die Dämonen die Krankheit direkt bewirkt haben. Es könnte auch sein, dass die Belastung, die der dämonische Einfluss für einen Menschen bedeutete, zum Ausbruch von Krankheiten führte, wie etwa psychischen Störungen oder auch körperliche Krankheiten, die man heute als psychosomatisch bezeichnen würde.

Jesus erkannte die tiefere Ursache hinter diesen Krankheiten und hat diese durch die Dämonenaustreibungen entfernt. Zugleich hat er auch die Krankheit geheilt. Er hat den durch böse Mächte verursachten Schaden gutgemacht. Er hat den Menschen dadurch die Freiheit geschenkt, sich Gott zuzuwenden.

18 Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze 19 und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. (Lukas 4,18-19)

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