Hat Jesus gewusst, wer sein Gewand berührt hat?

Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. 25 Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt. 26 Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden. 27 Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. 28 Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. 29 Und sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. 30 Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? 31 Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? 32 Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. 33 Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. 34 Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein. (Markus 5,24b-34)

Beim Lesen dieser Wundererzählung kann man den Eindruck gewinnen, dass Jesus selbst von der Heilung überrascht war, dass die Wunderkraft aus ihm unabhängig von seinem Willen ausgeströmt wäre. Jesus selbst hätte nicht gewusst, was da eigentlich los war und wer ihn berührt hatte. Doch kann das wirklich so gewesen sein?

Matthäus erzählt die Begebenheit nicht so ausführlich:

20 Und siehe, eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt, trat von hinten heran und berührte den Saum seines Gewandes; 21 denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. 22 Jesus wandte sich um, und als er sie sah, sagte er: Hab keine Angst, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet! Und von dieser Stunde an war die Frau geheilt. (Matthäus 9,20-22)

Nach der kurzen Darstellung von Matthäus hat Jesus sofort, nachdem die Frau sein Gewand (genauer: die Quasten, die Jesus wie alle anderen Juden an seinem Gewand hatte) berührt hatte, sich der Frau zugewandt und ihr die Heilung zugesprochen. Erst dadurch war die Frau geheilt.

Die Darstellung von Lukas ist ausführlicher als die von Matthäus und der von Markus ähnlich:

43 Da war eine Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluss litt, ihren ganzen Lebensunterhalt für Ärzte aufgewandt hatte und von niemandem geheilt werden konnte. 44 Sie trat von hinten heran und berührte den Saum seines Gewandes. Im gleichen Augenblick kam der Blutfluss zum Stillstand. 45 Da fragte Jesus: Wer hat mich berührt? Als alle es abstritten, sagte Petrus: Meister, die Leute zwängen dich ein und drängen sich um dich. 46 Jesus erwiderte: Es hat mich jemand berührt; denn ich fühlte, wie eine Kraft von mir ausströmte. 47 Als die Frau merkte, dass sie nicht verborgen bleiben konnte, kam sie zitternd herbei, fiel vor ihm nieder und erzählte vor dem ganzen Volk, warum sie ihn berührt hatte und wie sie sofort geheilt worden war. 48 Da sagte er zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! (Lukas 8,43-48)

In Vers 46 legt sich das Verständnis nahe, dass Jesus durch das Ausströmen der Kraft bemerkt hat, dass ihn jemand berührt hat.

Sollen wir wirklich annehmen, dass die Heilkraft Jesu einfach so aus ihm ausströmte, auch ohne seine Zustimmung? Dass diese Kraft jemanden heilte, ohne dass Jesus wusste, wer es war, der seine Kleider berührte?

Ich denke, dass die fragenden Worte Jesu vor allem der Frau, die ihn berührt hatte, helfen sollten, nicht in der Anonymität der Masse verschwinden zu wollen, sondern sich persönlich Jesus zuzuwenden und sich auch vor den Menschen dazu zu bekennen.

Durch die ständigen Blutungen befand sie sich in einem Dauerzustand der kultischen Unreinheit. Wer auch nur einen Gegenstand berührte, auf den sie sich setzte, wurde unrein, um wie viel mehr jeder Mensch, den sie berührte (vergleiche Levitikus 15,25-27). Man kann annehmen, dass sie im Gedränge der Leute etliche andere Menschen „verunreinigt“ hatte, vor allem aber Jesus, dessen Gewand sie ganz bewusst berührt hatte. Jeder, der durch sie verunreinigt worden war, hätte sich und seine Kleider waschen müssen und wäre bis zum Abend unrein gewesen. Es ist daher sehr gut verständlich, dass diese Frau im Verborgenen bleiben wollte.

Doch bei den Wundern Jesu gab es keine Heilungsautomatik. Die Heilung ist Ausdruck der persönlichen Zuwendung Gottes zu einem Menschen. Er hat diese Zuwendung in seinem Sohn geschenkt. So war auch zu dieser Heilung der persönliche Kontakt zwischen Jesus und der Frau notwendig.

Jesus hat die Frau direkt bei ihrer Berührung seines Gewandes geheilt. Das sollte ihr auch helfen, sich anschließend dazu zu bekennen. Die Heilung geschah schon im Augenblick der Berührung mit dem vollen Wissen und Willen Jesu. Mit seinem Fragen hat Jesus die Frau dazu herausgefordert, die Anonymität der Menge zu verlassen. So konnte er ihr dann mit seinen Worten die Heilung zusprechen.

Interessant ist auch, dass keine Rede davon ist, dass sich Jesus anschließend die Reinigungsriten durchgeführt hätte. Seine Reinheit hat die Unreinheit der Frau weggenommen, aber er ist rein geblieben.

In Matthäus 14,36 und Markus 6,56 wird von anderen Situationen erzählt, in den Jesus gebeten wurde, dass er Kranke wenigstens den Saum seines Gewandes berühren lasse, worauf es heißt:

Und alle, die ihn berührten, wurden geheilt.

Auch in diesen Fällen war es die persönliche Zuwendung Jesu, die die Heilung gebracht hat, nicht die bloße Berührung. Das gilt auch für die Heilungen, die Petrus an den Kranken gewirkt hat, die hingelegt wurden, damit sein Schatten auf sie fiel (Apostelgeschichte 5,15).

Auch wenn Jesus in seiner Erniedrigung nicht alles wusste, so geschahen seine Heilungen doch nicht ohne sein Wissen und ohne sein Wollen. Gott ist keine anonyme Kraft, sondern ein persönlicher Gott. Er begegnet jedem ganz persönlich in Jesus Christus.

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