1 Als er wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand. 2 Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. 3 Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte! 4 Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt – Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen. 5 Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt. 6 Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen. (Markus 3,1-6)
Nur Markus erwähnt in seiner Darstellung dieser von allen drei synoptischen Evangelien erzählten Heilung, dass Jesus die Menschen in der Synagoge von Kafarnaum der Reihe nach voll Zorn und Trauer ansah.
Jesu Zorn war nicht ein sündhafter Ausbruch seiner Emotionen, sondern zeigte seine Distanz zur Sünde. Dieser Zorn hatte seinen Grund in ihrer Bosheit, die das große Geschenk, das Jesus dem behinderten Mann durch die Heilung machte, als Anklagegrund gegen Jesus missbrauchen wollte. Sie hatten kein Erbarmen mit dem Kranken, sondern suchten einen Grund gegen Jesus. Sie sahen nicht Gottes Wirken, das durch Jesus geschah, sondern eine Übertretung ihrer eigenen Interpretation des Sabbatgebots. In ihrer Verblendung meinten sie, Gott dadurch zu dienen, dass ein Kranker am Sabbat nicht geheilt wird.
Nach der Darstellung von Matthäus hat Jesus ihnen an einem Beispiel auch ihre eigene Inkonsequenz aufgezeigt:
11 Er aber sprach zu ihnen: Wer von euch, der ein einziges Schaf hat, wird es nicht packen und herausziehen, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt? 12 Wie viel mehr ist ein Mensch als ein Schaf? Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. (Matthäus 12,11-12)
Nach pharisäischer Ansicht war die Heilung eines Kranken am Sabbat nur bei akuter Lebensgefahr erlaubt.1 Diese lag bei dem Mann mit der verdorrten Hand nicht vor. Das Retten eines Haustieres aus einer Grube war jedoch erlaubt.2
Wir haben hier ein warnendes Beispiel vor Augen, wie ein formalistisch eingeengtes Verständnis der Gebote Gottes den Menschen verblendet und von Gott trennt. Nicht Gott ist im Mittelpunkt, sondern eine Regel, die exakt eingehalten werden muss. Diese Art von „Gottesdienst“ dient nicht Gott, sondern den menschengemachten Regeln. Das eigene Verständnis eines Gebotes wird wichtiger als Gott. Der formale Gehorsam verstellt den Blick auf das Wirken Gottes und führt zur Ablehnung des von Gott gesandten Messias, der durch die Krankenheilung die heilende Liebe Gottes bezeugte.
Wenn jemand mit seinen eigenen Augen Zeuge eines durch Gottes Kraft gewirkten Wunders wird und danach den Beschluss fasst, den Menschen, durch den Gott gewirkt hat, zu töten, zeigt das eine sehr starke Verhärtung im Bösen, die sich hinter der frommen Fassade verborgen hat.
Jesus hatte großes Mitleid mit reumütigen Sündern. Aber auf diese Verhärtung, die auf Gottes Wirken nur mit Hass reagierte, konnte Jesus nicht mit Mitleid antworten, da diese Menschen dieses Mitleid selber nicht wollten. So zeigte sein Zorn seine große Distanz zu dieser fromm getarnten Bosheit.
Zugleich war Jesus traurig über ihre Verhärtung. Auch wenn er ihnen nicht helfen konnte, weil sie sich selber gegen Gottes Hilfe verschlossen hatten, erfüllte es ihn mit Trauer, weil sich Menschen in ihrer vermeintlichen Gottesfurcht so weit verhärtet hatten, dass sie Gott überhaupt nicht fürchteten und seinen Gesandten vernichten wollten. Nicht einmal die Wunder Jesu konnten sie aus ihrer Verhärtung herausholen. Sie wussten ja schon vor dieser Situation, dass Jesus heilte, waren wohl sogar schon Zeugen seiner Wunder gewesen. Das erste von Markus berichtete Wunder, die Befreiung eines Besessenen, war ja auch in der Synagoge von Kafarnaum geschehen (Markus 1,21-28). Alles, was sie sahen und hörten, hat sie aber nicht zur Umkehr gebracht, sondern sie vielmehr im Bösen verhärtet.
Die Trauer Jesu über ihre Verstockung zeigt auch, dass es nicht Gottes Wille war, dass sie sich gegen ihn verhärteten. Gott wollte auch ihre Umkehr. Es gibt keine Vorherbestimmung zur Sünde. Weil Jesus die Pharisäer liebte, war er traurig über ihr verstocktes Herz. Aber er kann nur denen helfen, die sich helfen lassen.
Trotz ihrer Bosheit hat Jesus den Kranken geheilt, auch wenn das den Todesbeschluss der Pharisäer zur Folge hatte. Er hat dadurch den Gott bezeugt, der das Leben und das Heil der Menschen will, nicht aber ihren Tod und ihr Verderben.
- Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch von Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, München 1922, S. 623. ↩
- Strack-Billerbeck, S. 629. Es gab jedoch auch eine strengere Richtung unter den Pharisäern, die wohl das Füttern des Tieres in seiner gefährlichen Lage, nicht aber seine Rettung aus ihr erlaubte. Zur Zeit Jesu war offensichtlich der tierfreundlichere Standpunkt verbreitet. ↩