Hat Gott Freude am Vernichten?

So wie der HERR seine Freude daran hatte, euch Gutes zu tun und euch zahlreich zu machen, so wird der HERR seine Freude daran haben, euch auszutilgen und euch zu vernichten. Ihr werdet aus dem Land, in das du nun hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, herausgerissen werden. (Deuteronomium 28,63)

Deuteronomium 28 ist ein Kapitel, in dem es um Segen und Fluch geht. In den ersten 14 Versen geht es um den Segen, den Gott seinem Volk Israel schenkt, wenn es seine Gebote bewahrt und hält. Der Segen äußert sich in Fruchtbarkeit, Wohlstand, Sieg über die Feinde.

Im längeren Teil des Kapitels, in den Versen 15 bis 68, geht es um den Fluch, der als Konsequenz für den Ungehorsam dargestellt wird. Es handelt sich um eine lange Liste von allen schrecklichen Dingen, die einem in der Antike widerfahren konnten: Dürren, Missernten, Krankheiten, Feinde, Exil, Sklaverei …

In diesem langen Abschnitt erscheint der HERR als der Handelnde. Es ist der HERR, der das Volk mit Krankheiten schlägt, der das Volk niederstößt und den Feinden ausliefert. Es ist der HERR, der sie unter die Völker zerstreut, der ihr Herz erzittern, ihre Augen verlöschen und den Atem stocken lässt.

Vers 63 ist ein Höhepunkt dieses Kapitels. Hier wird sogar ausgedrückt, dass Gott Freude daran hat, sein Volk auszutilgen und zu vernichten.

Wie passt das zu dem Gott, der nicht nur im Neuen Testament als Gott der Liebe vorgestellt wird?

Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. (1 Johannes 4,16)

8 Der HERR ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld. 9 Er wird nicht immer rechten und nicht ewig trägt er nach. 10 Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Schuld. (Psalm 103,8-10)

Ziel der langen Auflistung von Flüchen in Deuteronomium 28 war es, das Volk vor dem Sündigen zu bewahren. Man muss aber nicht annehmen, dass all das Schlimme, das über das ungehorsame Volk kommt, auf direkten Befehl Gottes kommt. Wenn Gott seine segnende Hand zurückzieht, nimmt das Unglück seinen Lauf. Ohne den Segen Gottes war das kleine Volk Israel in einem Gebiet, das zwischen den Großmächten Ägypten und Assyrien / Babylonien lag, immer in Gefahr, Opfer einer dieser gierigen Mächte zu werden. Ohne Gottes Segen konnten Dürren kommen oder Heuschrecken einfallen. In unserer gefallenen Welt ist das Unglück immer nahe.

Wenn die Schicksalsschläge als direktes Eingreifen Gottes geschildert wurden, so war das vielleicht, um zu zeigen, wie sehr die Sünden ein direktes Handeln gegen Gott waren. Sünde zerstört die Beziehung. Wenn Israel sich durch das Sündigen von Gott entfremdet und sich auf die Stufe der Völker begibt, die diese besondere Zuwendung Gottes nicht erfahren haben, erfährt es diese Entfremdung umso deutlicher. Mit der Erwählung war auch eine besondere Verantwortung verbunden.

1 Hört dieses Wort, das der HERR gesprochen hat über euch, ihr Söhne Israels, über den ganzen Stamm, den ich aus Ägypten heraufgeführt habe. 2 Nur euch habe ich erkannt unter allen Stämmen der Erde; darum suche ich euch heim für alle eure Vergehen. (Amos 3,1-2)

Weil Gott nicht wollte, dass sein Volk in den Sünden der anderen Völker lebt, hat er diese Strafgerichte zugelassen. Doch das Ziel war nicht die Vernichtung, sondern die Heiligung des Volkes.

In den Klageliedern, die kurz nach der großen Katastrophe der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier geschrieben wurden, heißt es:

19 An meine Not und Unrast denken ist Wermut und Gift. 20 Immer denkt meine Seele daran und ist betrübt in mir. 21 Das will ich mir zu Herzen nehmen, darauf darf ich harren: 22 Die Huld des HERRN ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. 23 Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue. 24 Mein Anteil ist der HERR, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn. 25 Gut ist der HERR zu dem, der auf ihn hofft, zur Seele, die ihn sucht. 26 Gut ist es, schweigend zu harren auf die Hilfe des HERRN. 27 Gut ist es für den Mann, ein Joch zu tragen in der Jugend. 28 Er sitze einsam und schweige, denn er hat es ihm auferlegt. 29 Er beuge in den Staub seinen Mund; vielleicht ist noch Hoffnung. 30 Er biete die Wange dem, der ihn schlägt, und lasse sich sättigen mit Schmach. 31 Denn nicht für immer verwirft der Herr. 32 Hat er betrübt, erbarmt er sich auch wieder nach seiner großen Huld. 33 Denn nicht freudigen Herzens plagt und betrübt er die Menschenkinder. 34 Dass man mit Füßen tritt alle Gefangenen des Landes, 35 dass man das Recht des Mannes beugt vor dem Antlitz des Höchsten, 36 dass man im Rechtsstreit den Menschen bedrückt, sollte der Herr das nicht sehen? (Klagelieder 3,19-36)

39 Wie dürfte denn ein Lebender klagen, ein Mann über seine Sünden? 40 Prüfen wir unsre Wege, erforschen wir sie und kehren wir um zum HERRN! 41 Erheben wir unser Herz samt den Händen zu Gott im Himmel! (Klagelieder 3,39-41)

Diese Zeilen drücken die Gesinnung aus, zu der Gott sein Volk führen wollte. Es geht um das Erkennen und das Annehmen der Konsequenzen der eigenen Sünden und um die Umkehr zu Gott.

Klagelieder 3,33 drückt das genaue Gegenteil von Deuteronomium 28,63 aus. Gott straft nicht freudigen Herzens.

Es ist ohnedies ein Problem, bei Gott über Gefühlsäußerungen wie Freude oder Trauer zu sprechen. Unter Menschen sind die Gefühle auch Ausdruck der Veränderlichkeit. Freude und Trauer können schnell wechseln. Gott ist dieser Veränderung nicht unterworfen. Wenn die Bibel auf diese Weise über Gott spricht, dann soll dadurch ausgedrückt werden, dass Gott kein totes Prinzip ist. Er ist das Leben. Er ist Person. Er möchte uns seine liebevolle Zuneigung schenken, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wie das im Wesen des Ewigen „abläuft“.

Die Worte von Klagelieder 3,33 sind für uns leichter zu verstehen als Deuteronomium 28,63, weil aus Klagelieder 3 mehr hervorgeht, was das Ziel der Strafe ist. Ein strafender Vater, den es selbst schmerzt, strafen zu müssen, ist etwas anderes als jemand, der straft und dabei vor Freude lacht.

Rabbi Schlomo ben Jizchak (Raschi) hat im 11. Jahrhundert eine andere Übersetzung dieser Stelle vorgeschlagen und entsprechend erklärt:

So wird der Herr seine Feinde dazu bringen, sich über euch zu freuen, um euch zu vernichten.“ [Aber der Heilige, gepriesen sei Er, selbst freut sich nicht. Von hier aus lernen wir, dass der Heilige, gepriesen sei Er, sich nicht über den Untergang der Gottlosen freut, denn in unserem Vers heißt es nicht יָשׂוּשׂ / jāsus [in der einfachen Konjugation], „sich freuen“, sondern יָשִׂישׂ / jāsis in der kausalen Konjugation, „sich freuen lassen“. D. h., Gott wird andere über deinen Untergang jubeln lassen, weil du böse gehandelt hast, während er selbst sich nicht persönlich über deinen Untergang freuen wird. Doch wenn es darum geht, den Gerechten Gutes zukommen zu lassen, freut sich Gott selbst, wie es heißt: „so wie der Herr sich über dich freut (שָׂשׂ / sās) [um dir Gutes zu tun“, wobei das Verb שָׂשׂ / sās in der einfachen Konjugation steht, denn Gott selbst freut sich hier]] Quelle

Er meinte, dass das Verb im Grundstamm יָשׂוּשׂ / jāsus heißen müsste, es steht aber יָשִׂישׂ / jāsis, im Kausativstamm, was heißt: „er lässt freuen, er verursacht, dass sich andere freuen.“ Das Problem an dieser Erklärung ist, dass die Form יָשִׂישׂ / jāsis an den drei weiteren Stellen, an denen sie vorkommt (Psalm 19,6; Jesaja 62,5, Zefanja 3,17) im Grundstamm verwendet wird, also mit „er freut“ zu übersetzen ist.

Ein von mir befragter Rabbi hat zugestimmt, dass die übliche Übersetzung wäre, dass Gott sich freut. Jedoch sei es aufgrund dessen, was die jüdische Tradition über Gott sagt, unvorstellbar zu denken, dass Gott sich darüber freut, dass er sein Volk leiden lasse. Daher muss die korrekte Bedeutung dieses Verses sein, dass Gott verursacht, dass die Feinde sich freuen.

Von der Grammatik her muss die von Raschi vorgeschlagene Übersetzung wohl möglich sein. Ich denke auch, dass man diese Stelle nicht in dem Sinn „wörtlich“ nehmen kann, dass Gott tatsächlich Freude am Leiden der Menschen hat. Doch vielleicht muss man nicht zu einer anderen Übersetzung Zuflucht nehmen. Auch Martin Buber hat im traditionellen Sinn übersetzt:

Es wird geschehn, gleichwie ER sich an euch ergötzte, euch gutzutun und euch zu mehren, so wird ER sich an euch ergötzen, euch zu schwenden und euch zu tilgen, […]

Vielleicht ist hier eine sehr eindringliche Gegenüberstellung zwischen dem segnenden und strafenden Handeln Gottes zu sehen, die zeigen sollen, dass die Sünde direkt gegen die Gottesfreundschaft gerichtet ist, aber dass hier keine Aussage über das Wesen Gottes gemacht wird.

Es ist wichtig, immer die Gesamtheit der Offenbarung vor Augen zu haben, um auch schwer verständliche Stellen korrekt einordnen zu können.

In Deuteronomium 30 kommt das Thema der Freude Gottes noch einmal vor.

1 Und es wird geschehen, wenn all diese Worte über dich kommen, der Segen und der Fluch, die ich dir vorgelegt habe, und du es dir zu Herzen nimmst unter all den Nationen, wohin der HERR, dein Gott, dich verstoßen hat, 2 und du umkehrst zum HERRN, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchst nach allem, was ich dir heute befehle, du und deine Kinder, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, 3 dann wird der HERR, dein Gott, dein Geschick wenden und sich über dich erbarmen. […] 9b Denn der HERR wird sich wieder über dich freuen zum Guten, wie er sich über deine Väter gefreut hat, 10 wenn du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst, um seine Gebote und seine Ordnungen zu halten, die in diesem Buch des Gesetzes aufgeschrieben sind, wenn du zum HERRN, deinem Gott, umkehrst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele. (Deuteronomium 30,1-3.9b-10 – Elberfelder)

Gottes Ziel und Wunsch ist die Umkehr. Er will allen, die sich von ihren Sünden abkehren und sich zu ihm wenden, voller Freude seinen Segen schenken.

Die Warnung vor der Sünde gilt nicht nur den Gläubigen des Alten Bundes. Gerade weil in Jesus Christus die Menschenfreundlichkeit Gottes zu uns gekommen ist, hat die Ablehnung dieser tiefsten Zuwendung Gottes zu uns große Konsequenzen:

1 Darum müssen wir umso aufmerksamer auf das achten, was wir gehört haben, damit wir nicht vom rechten Kurs abgetrieben werden. 2 Denn wenn schon das durch Engel verkündete Wort verpflichtend war und jede Übertretung und jeder Ungehorsam die gerechte Vergeltung fand, 3 wie sollen dann wir entrinnen, wenn wir uns um ein so erhabenes Heil nicht kümmern, das zuerst durch den Herrn verkündet und uns von denen, die es gehört hatten, bestätigt wurde? (Hebräer 2,1-3)

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