Hinaufgestiegen bist du zur Höhe, hast Gefangene mitgeführt, hast Gaben genommen von Menschen – auch von Aufsässigen -, HERR, Gott, um dort zu wohnen. (Psalm 68,19)
In Psalm 68 geht es um Gottes Sieg über seine Feinde. In diesem Psalm wird auf verschiedene Ereignisse der Geschichte Israels angespielt. Mehrfach betont wird auch die Verehrung Gottes im Tempel von Jerusalem. Vers 19 ist wohl allgemein zu verstehen. Gott hat seine Feinde besiegt und hat von ihnen auch Gaben empfangen. Die „Höhe“, zu der Gott hinaufgestiegen ist, ist im Zusammenhang des Psalms vermutlich der Berg Zion, auf dem der Tempel stand. Es könnte damit aber auch sowohl der Tempel als auch der Himmel gemeint sein, der wahre „Wohnsitz“ Gottes. Salomo sagte bei der Einweihung des Tempels:
Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe. (1 Könige 8,27)
Im Epheserbrief verwendet Paulus diesen Vers im Zusammenhang mit Jesus und der Gemeinde.
7 Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi gegeben worden. 8 Darum heißt es: »Hinaufgestiegen in die Höhe, hat er Gefangene gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben.« 9 Das Hinaufgestiegen aber, was besagt es anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde? 10 Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfüllte. 11 Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, 12 zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi, 13 bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollen Mannesreife, zum Maß der ⟨vollen⟩ Reife der Fülle Christi. (Epheser 4,7-13 – Elberfelder)
Wörtlicher übersetzt heißt es im Mittelteil von Vers 8:
[…] hat er Gefangenschaft gefangen geführt […]
Paulus hat hier nicht exakt zitiert. Er hatte offensichtlich die Septuaginta-Übersetzung als Vorlage. Die Formulierung, dass er „Gefangenschaft gefangen geführt“ hat, entspricht dieser bereits in vorchristlicher Zeit entstandenen Übersetzung ins Griechische.
Er hat den Satz von der zweiten Person in die dritte Person umgeformt. Es wird nicht mehr Gott angesprochen, sondern es wird über den Hinaufgestiegenen in der dritten Person gesprochen. Diese Abänderung ist in sich noch keine inhaltliche Änderung.
Es gibt aber noch eine andere Änderung, die auch den Inhalt betrifft. Im Psalm heißt es, dass Gott Gaben genommen oder empfangen hat. In der Version des Epheserbriefs heißt es, dass er den Menschen Gaben gegeben hat. Paulus hat hier die Aussage des Psalms in das Gegenteil abgeändert.
Da wir davon ausgehen müssen, dass zumindest den Juden unter den Empfängern des Briefes dieser Psalm bekannt war, ist hier nicht damit zu rechnen, dass Paulus den Inhalt des Psalms einfach verfälschen wollte. Ich denke, dass wir das als eine bewusste Paraphrase verstehen sollen, dass Paulus durch die Änderung des Textes auf etwas Wichtiges hinweisen wollte. Im Alten Testament führte der Sieg Gottes dazu, dass er von den Menschen Gaben empfangen hat. Der Sieg, den Christus errungen hat, führte dazu, dass den Menschen Gaben geben wurden. Paulus hat durch diese Abänderung auf die überfließende Gnade Gottes in Jesus Christus hingewiesen.
Die Gabe Christi wurde in der Gemeinde konkret sichtbar an den Menschen, die Gott in den Dienst der Gläubigen gestellt hat. Die „Amtsträger“ haben nicht den Auftrag, sich über die Gemeinde zu erheben, sondern durch ihren Dienst die Heiligen, d. h. die Gläubigen, für deren Dienst auszurüsten. Das Leben der Gemeinde ist ein gegenseitiges Dienen und füreinander Dasein. So können alle im Glauben wachsen und reifen.
Bedeutsam ist auch, dass Paulus ein alttestamentliches Wort, in dem es um Gott geht, ohne Bedenken auf Jesus Christus anwendet. So geht der Apostel selbstverständlich von der Gottheit Jesu aus. Er kann diesen Glauben auch bei den Empfängern des Briefes ohne nähere Erklärung voraussetzen.
Gott ist in Jesus Christus zu den Menschen herabgestiegen und danach siegreich in den Himmel hinaufgestiegen. Er hat sich erniedrigt und wurde wieder erhöht. Er wurde „über alle Himmel erhöht, damit er alles erfüllte.“ Als begrenzter Mensch könnte Jesus nicht alles erfüllen. Wiederum setzt Paulus die Gottheit Jesu voraus. Jesus ist der Herr über alles.
Das „Hinabsteigen in die unteren Teile der Erde“ wird unterschiedlich verstanden. Entweder bezieht es sich auf die Erniedrigung bei der Menschwerdung. Manche beziehen es aber auf das Hinabsteigen ins Totenreich bei seinem Tod (vergleiche 1 Petrus 3,19).
Die „Gefangenen“, die Jesus gefangen geführt hat, beziehe ich auf die Menschen, die sein Erlösungswerk annehmen. Die „Gefangenen“ Jesu bekommen von ihm die wahre Freiheit geschenkt. Wenn man den Satz nach der wörtlichen Bedeutung des griechischen Texts versteht, hat Jesus die Gefangenschaft gefangen geführt. Das würde heißen, dass er die Sünde, die die Menschen gefangen hielt, besiegt hat. Wer Jesus nachfolgt, erfährt die Befreiung von den Fesseln der Sünde.
Wenn Paulus im Epheserbrief Psalm 68,19 zitiert oder paraphrasiert hat, dann nicht mit der Absicht zu zeigen, dass es sich um eine alttestamentliche Vorhersage einer neutestamentlichen Erfüllung handelte. Er hat dieses Wort dazu verwendet, um auf die Besonderheit und Größe des Sieges Jesu Christi hinzuweisen und auf den Reichtum, den er durch diesen Sieg der Gemeinde geschenkt hat.