Fluch als Mittel zur Wahrheitsfindung?

Wer nun mit dir darüber streitet, nach dem, was dir an Wissen zugekommen ist, so sag (zu denen): „Kommt her! Laßt uns unsere Söhne und eure Söhne, unsere Frauen und eure Frauen, uns selbst und euch selbst zusammenrufen und hierauf flehen und so den Fluch Allahs über die Lügner kommen lassen!“ (Sure 3,61)

Der Tafsir Al-Qur’an Al-Karim schreibt über diesen Vers auf Seite 145:

3:61-63 – Dieser Vers wurde anläßlich des Besuchs einer Delegation des christlichen Stammes von Naǧrān beim Propheten Muḥammad (a.s.s.) im Jahr 10 der Hiǧra offenbart. Als ihnen die göttliche Natur Jesu vergeblich widerlegt wurde, forderte der Prophet sie auf Grund dieser Offenbarung auf, den Fluch auf die Lügner zu beschwören. Zu dieser „Fluchaktion“ ließ der Prophet seine Tochter Fāṭima und ihr Ehemann ‘Alyy mit den beiden Enkelkindern Al-Ḥasan und Al-Ḥusain herbeirufen. Die entschlossene Handlungsweise des Propheten versetzte die christliche Delegation in Angst. Sie erklärten sich dann bereit, sich dem jungen islamischen Staat von AlMadīna zu unterwerfen und die Schutzsteuer an die Muslime zu zahlen. Wenn nunmehr die Geschichte der Wahrheit ohne jeden Zweifel allen Menschen bekannt geworden ist, so sollen die Muslime in ihrem Dialog die Schriftbesitzer auffordern, gemeinsam denselben Weg mit den Muslimen nach der Verfahrensweise des Qur’ān einzuschlagen, um den Fluch Allāhs auf die Leugner zu beschwören.

Dieser Dialog mit den Christen aus Nadschran ist nur aus islamischer Quelle bekannt. Ibn Hischam schrieb in seinem „Leben Mohammeds“1 einiges darüber. Es lässt sich daher schwer nachprüfen, ob der Dialog tatsächlich in dieser Weise stattgefunden hat und ob die göttliche Natur Jesu tatsächlich widerlegt wurde.2

Gegen Ende dieses ersten christlich-islamischen Dialogs hat Mohammed auf Geheiß Allahs beide Gruppen dazu aufgefordert, Gottes oder Allahs Fluch über die Lügner herabzurufen. Ich verstehe das so, dass sich beide Glaubensrichtungen gegenseitig verfluchen sollten. Die, die von Allah oder Gott tatsächlich verflucht werden, wären dann als Lügner offenbar. Die christliche Delegation aus dem Nadschran weigerte sich jedoch, so zu handeln. Nach der oben zitierten Erklärung haben sie sich der politischen Oberhoheit des Islamischen Staates unterworfen, aber nicht seine Religion übernommen.

Im „Leben Mohammeds“ wird ein Dialog unter der christlichen Delegation so beschrieben:

Als sie dann allein mit Alakib, dem Verständigsten unter ihnen, waren, sagten sie ihm: nun, Diener des Messias, was ist Deine Ansicht? er sagte: bei Gott, ihr Christen, ihr wisset, dass Mohammed ein gesandter Prophet ist, er hat euch ausführliche Nachricht von euerm Herrn gebracht, und ihr wisset, dass so oft Leute einen Propheten verflucht haben, ihr Oberhaupt umgekommen ist und die Geringen nicht mehr gedeihen konnten, thut ihr diess, so ist es euer Verderben, sollt ihr aber euerm Glauben treu bleiben, und euere Ansicht über euern Herrn aufrecht erhalten, so nehmet Abschied von dem Manne und kehret in eure Heimath zurück!
Sie giengen hierauf zu Mohammed zurück, und sagten ihm: wir finden es für dich gut, Dich nicht zu verfluchen, wir lassen Dich in Deinem Glauben und wir bleiben bei dem Unsrigen, […]

Ibn Isḥāq, auf dessen Werk Ibn Hischām zusammengefasst hatte, lebte ca. 100 Jahre nach Mohammed. Es gibt daher überhaupt keine Gewähr für die verlässliche Wiedergabe dieses Gesprächs, sofern dieses islamisch-christliche Religionsgespräch überhaupt stattgefunden hat. Wenn die Delegation aus Nadschran tatsächlich anerkannt hätte, dass Mohammed ein Prophet und Gesandter Gottes war, warum sind sie dann bei ihrem Glauben geblieben? Vielleicht haben sie einfach gesehen, dass ihnen keine andere Wahl bleibt, als die Oberhoheit des Islamischen Staates unter Mohammed anzuerkennen, da sie nicht die militärische Stärke zum Widerstand hatten. Deswegen haben sie sich unterworfen.

Es ist zu befürchten, dass das südarabische Christentum des 7. Jahrhunderts sich schon beträchtlich von der frühchristlichen Praxis abgewandt hat. Aber vermutlich war ihnen auch klar, dass es nicht Gottes Wille ist, die Feinde zu verfluchen.

27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! 28 Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! (Lukas 6,27-28)

Fluch ist für Christen genauso wenig ein Mittel zur Wahrheitsfindung wie Gewalt. Die Wahrheit muss sich durch Argumente im Gespräch erweisen.

Gottes Wille ist es, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1 Timotheus 2,4). Christen wollen daher auch für ihre Gegner das Heil und wollen sie nicht verfluchen.3

Die Motivation und Gesprächsführung eines Dieners Gottes beschreibt Paulus so:

24 Ein Knecht des Herrn soll nicht streiten, sondern zu allen freundlich sein, ein geschickter und geduldiger Lehrer, 25 der auch die mit Güte zurechtweist, die sich hartnäckig widersetzen, damit Gott ihnen vielleicht Umkehr zur Erkenntnis der Wahrheit schenkt 26 und sie wieder zur Besinnung kommen und aus dem Netz des Teufels befreit werden, von dem sie gefangen gehalten werden, seinem Willen unterworfen. (2 Timotheus 2,24-26)

Da geht es nicht um Verfluchung des Gegners, sondern um den Wunsch, dass er die Wahrheit Gottes erkennen möge.

Es stimmt aber auch, dass bei einer Verhärtung des Gesprächspartners ein Gespräch nicht mehr sinnvoll ist. Darum schreibt Paulus:

10 Wenn du einen, der falsche Lehren vertritt, einmal und ein zweites Mal ermahnt hast, so meide ihn! 11 Du weißt, ein solcher Mensch ist auf dem verkehrten Weg; er sündigt und spricht sich selbst das Urteil. (Titus 3,10-11)

Paulus hat Titus aufgefordert, in so einem Fall nicht mehr das Gespräch zu suchen. Der Irrlehrer sprich sich selbst das Urteil. Es geht nicht darum, den Irrlehrer zu verfluchen.

Vielleicht war das der Grund, warum die christliche Abordnung aus Nadschran Mohammed nicht verfluchen wollte. Sie sahen das nicht als ihre Aufgabe. Sie wollten aber auch nicht mehr mit ihm reden. Sie sagten zu ihm: „Wir lassen Dich in Deinem Glauben und wir bleiben bei dem Unsrigen.“ Das war kein Gutheißen seines Glaubens, aber ein Anerkennen der Realität, die nicht zu ändern war.

Traurig ist, dass der Tafsir die „Beschwörung des Fluches Allahs über die Leugner“ als grundsätzliche Anweisung an alle Muslime sieht.

[…] so sollen die Muslime in ihrem Dialog die Schriftbesitzer auffordern, gemeinsam denselben Weg mit den Muslimen nach der Verfahrensweise des Qur’ān einzuschlagen, um den Fluch Allāhs auf die Leugner zu beschwören.

Das zeigt, dass Muslime nicht auf dem Weg Jesu gehen, von dem sie behaupten, er sei ihr Prophet.

22 Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. 23 Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. (1 Petrus 2,22-23)


  1. Das Leben Mohammeds nach Mohammed Ibn Ishak bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischam, aus dem Arabischen übersetzt von Dr. Gustav Weil, 1. Band, Stuttgart 1864, S.297-306. 
  2. Ich habe vor, mich mit der von Ibn Hischam wiedergegebenen Argumentation in einem späteren Beitrag auseinanderzusetzen. 
  3. Zum Anathema von Paulus über die Verkünder eines falschen Evangeliums gibt es einen eigenen Beitrag

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