6 Ich bin erstaunt, dass ihr euch so schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet. 7 Es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. 8 Jedoch, auch wenn wir selbst oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten als das, das wir verkündet haben – er sei verflucht. 9 Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das ihr angenommen habt – er sei verflucht. (Gal 1,6-9)
Im Römerbrief fordert Paulus zum Segnen auf, nicht zum Fluchen:
Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! (Römer 12,14)
Er folgt damit dem Beispiel Jesu:
27 Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! 28 Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! (Lukas 6,27-28)
Widerspricht Paulus sich selbst und Jesus, wenn er im Galaterbrief einen Fluch äußert?
Nachdem durch die Verkündigung des Apostels in mehreren Städten der Provinz Galatien christliche Gemeinden entstanden waren, kamen Menschen in diese Gemeinden, die die im Glauben jungen Brüder und Schwestern davon überzeugen wollten, dass sie, um Gott zu gefallen, sich an die Gesetze des Alten Testaments halten müssen. Es ging dabei aber nicht um die ethischen Gesetze, sondern um Ritualvorschriften, die etwa Speisen oder Festzeiten betrafen. Paulus sah darin eine Verfälschung des Evangeliums, weil die Ritualgesetze dadurch zu heilsnotwendigen Regeln erklärt wurden.
Der ganze Galaterbrief ist ein Ausdruck seines Ringens um das Heil der Galater, das er durch das Eindringen der „Judaisten“ in großer Gefahr sah. Darum stellt Paulus gleich an den Beginn seines Briefes eine klare Beurteilung der Lehre dieser Verkünder. Es ist ein anderes Evangelium. Wer sich vom wahren Evangelium abwendet, ist verflucht. Das ist keine Frage der persönlichen Abneigung, sondern eine Frage der Wahrheit.
Paulus verwendet das Wort ἀνάθεμα / anáthema. Wörtlich bedeutet dieses Wort etwas „Aufgestelltes“. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, steht es für חֵרֶם / chēräm. Dieses Wort drückte aus, dass etwas oder jemand völlig Gott ausgeliefert wurde, oft im Sinne der Bestrafung durch totale Zerstörung. Manchmal meint dieses Wort auch Dinge, die Gott geweiht waren und dem profanen Gebrauch entzogen waren und nur den Priestern zur Verfügung standen (z. B. Numeri 18,14).
Im Zusammenhang des Galaterbriefes meinte Paulus sicher nicht, dass die Verführer in besonderer Weise Gott geweiht waren. Er konnte aber auch nicht meinen, dass sie getötet werden sollten. Wenn die Christen Irrlehrer umgebracht hätten, hätten sie zurecht mit der Verfolgung durch die römische Staatsmacht rechnen müssen, die eine derartige Selbstjustiz nicht dulden konnte.
Die Elberfelder Bibel schreibt in der Fußnote: griech. anathema; d. h. dem Gericht Gottes übergeben. Meines Erachtens passt dieses Verständnis gut. Die Verführer haben sich durch ihre falsche Lehre außerhalb der Gemeinde Gottes gestellt. Sie haben keinen Platz mehr darin und sind Gottes Gericht ausgeliefert. Sie stehen nunmehr außerhalb des Verantwortungsbereichs der Gemeinde, in der sie daher auch keinerlei Autorität haben dürfen. Die Gemeinde distanziert sich. Gott ist es, der sie richten wird. In Römer 9,3 steht das Wort anáthema in Parallele zu „von Christus getrennt“. Die Verführer stehen nicht mehr unter der Gnade Jesu Christi, sie sind von ihm getrennt.
Es geht in Galater 1,8-9 nicht um einen Fluch in dem Sinn, dass man jemandem etwas Böses wünscht oder sein Unheil herbeisehnt. Nach Römer 12,14 sollen sogar die Verfolger, die damals oft das Evangelium gar nicht richtig kannten, gesegnet werden. Es geht um das Aussprechen einer geistlichen Wirklichkeit, in die sich die Verführer durch ihr Handeln hineinbegeben haben. Paulus schreibt in Vers 8, dass das auch ihn selbst oder sogar Engel vom Himmel betreffen würde, wenn sie die Wahrheit des Evangeliums verfälschen würden.
Auch Jesus hat, wenn es um Verführung geht, sehr harte Worte gefunden:
Und wer eines dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser, wenn ein Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde. (Markus 9,42 – Elberfelder)
Wer ein falsches Evangelium verkündet, trennt nicht nur sich selbst von Gott, sondern bringt auch das Heil derer, die auf ihn hören, in Gefahr. Er macht sich dadurch zum Feind Gottes.
Die harten Worte von Paulus waren angebracht. Er schrieb sie aus Liebe und Verantwortung für die jungen Christen von Galatien.
[…] meine Kinder, für die ich von Neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt. (Galater 4,19)