In katholischen und orthodoxen Bibeln ist das Buch Daniel umfangreicher als in protestantischen und jüdischen Ausgaben. Das hängt damit zusammen, dass die griechischen Versionen der Septuaginta und von Theodotion auch Material enthalten, das sich in der hebräisch-aramäischen Fassung nicht findet.
Wie sollen wir diese Abschnitte beurteilen? Gehören sie als Teil des Buches Daniel zur Heiligen Schrift oder sind sie als apokryphe Texte zu betrachten?
Es handelt sich um folgende Texte:
- Zusätze zu Daniel 3: Gebet des Asarja (3,24-50) und Lobgesang der drei jungen Männer (3,51-90). Durch diese Einschübe werden die Verse 24-33 der auf dem aramäischen Text basierenden protestantischen Bibeln in katholischen Ausgaben als die Verse 91-100 gezählt.
- Susanna (Daniel 13)
- Bel und der Drache (Daniel 14)
In der Septuaginta Deutsch erscheinen Susanna und Bel und der Drache als eigene Schriften.
Zusätze zu Daniel 3
Daniel 3 erzählt über drei junge Männer, die sich weigerten, ein von König Nebukadnezar errichtetes goldenes Standbild zu verehren. Deswegen wurden sie gefesselt in einen Feuerofen geworfen. Im griechischen Text wird erzählt, dass die jungen Männer mitten in den Flammen umhergingen und Gott lobten (3,24). Das wird in zwei Gebetstexten dargelegt. Zuerst kommt ein Gebet des Asarja (3,25-45), danach ein Lobgesang der drei jungen Männer (3,51-90). Zwischen den beiden Gebeten wird in den Versen 46-50 erzählt, wie sehr die Knechte des Königs den Ofen heizten, dass aber der Engel des Herrn, der mit den drei Männern in den Ofen gestiegen war, das Feuer zum Ofen hinaustrieb und so die Männer nicht berührte.
Das Gebet des Asarja
Asarja, war einer der drei jungen Männern, der sonst im Kapitel als Abed-Nego, dem Namen, der ihm von den Babyloniern gegeben wurde (1,7), erscheint. Sein Gebet ist ein Bußgebet und erinnert an die Gebete in Daniel 9,4-19, zum Teil auch in Nehemia 9,5-37 oder in Jesaja 63,7-64,11. Es geht vor allem um die Not des Volkes Israel im Exil, das als Folge der Sünden gesehen wird. Im Zusammenhang erscheint die Rettung, um die in Vers 43 gebetet wird, die Rettung aus der Schande, die das Volk betrifft. Die konkrete Situation der jungen Männer im Ofen wird nicht angesprochen. Man gewinnt den Eindruck, dass der ursprüngliche Zusammenhang dieses Textes nicht die Situation im Feuerofen war.
Inhaltlich ist an diesem Gebet nichts auszusetzen. Es ist ein Gebet eines frommen Juden um Rettung, der mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn (Vers 39) sein Anliegen vor Gott bringt. Man findet immer wieder Anspielungen auf biblische Texte, die dem Verfasser dieses Textes wohlbekannt waren. Abraham wird wie in Jesaja 41,8 und 2 Chronik 20,7 Freund Gottes genannt. Die Schlussverse 44 und 45 erinnern an den Schluss von Psalm 83, wo in den Versen 18 und 19 darum gebetet wird, dass die Feinde beschämt werden sollen und erkennen sollen, dass Gott der Herr über die ganze Erde ist.
Der Lobgesang der drei jungen Männer
Dieser schöne Gebetstext erinnert an Psalm 148, in dem die ganze Schöpfung und alle Menschen Gott loben sollen. Der Lobgesang von Daniel 3 geht noch mehr ins Detail als der Psalm. Manche Anklänge gibt es auch an Psalm 103 und andere biblische Texte. Die konkrete Situation der Männer im Ofen wird erst gegen Ende des Lobgesangs in Vers 88 angesprochen.
Preist den HERRN, Hananja, Asarja und Mischaël; lobt und rühmt ihn in Ewigkeit! Denn er hat uns der Unterwelt entrissen und aus der Gewalt des Todes errettet. Er hat uns aus dem lodernden Ofen befreit, uns mitten aus dem Feuer erlöst.
Möglicherweise ist dieser Vers ein Zusatz zu einem bereits bestehenden Lobgesang, der eingefügt wurde, um das Gebet an die Situation anzupassen. Auch ohne Vers 88 bildet das Gebet eine Einheit, der nichts fehlt.
Beide Gebete könnten auch in der Bibel stehen. Sie bringen aber keine neuen Erkenntnisse über Gott, sondern greifen biblische Inhalte auf und formulieren sie neu.
Dass die Texte nachträglich eingefügt wurden, ist grundsätzlich kein Argument gegen ihre Kanonizität. Es scheint, dass auch das Gebet des Jona (Jona 2,2-10) seinen ursprünglichen Sitz im Leben nicht in der Jona-Erzählung hatte.
Beide Gebete aus Daniel 3 können mit Gewinn gelesen werden und hilfreich dabei sein, seine Lage vor Gott zu bringen oder in das Gotteslob der Schöpfung einzustimmen.
Auch wenn es kein inhaltliches Argument gegen ihre Kanonizität gibt, ist doch festzuhalten, dass diese Gebetstexte sich nicht in dem hebräisch-aramäischen Danielbuch befanden, das Jesus las. Er ist die Mitte der Schrift, die in ihm ihre Erfüllung findet. Etwas, das nicht in der Heiligen Schrift Jesu stand, kann auch für uns nicht Heilige Schrift sein.
Susanna
Die Erzählung über Susanna (Daniel 13) handelt in Babylon. Die schöne und gottesfürchtige Frau wurde das Opfer von zwei Ältesten, die als Richter der Juden fungierten. Die beiden Richter wollten sie zum Ehebruch nötigen.
21 Weigerst du dich, dann bezeugen wir gegen dich, dass ein junger Mann bei dir war und dass du deshalb die Mädchen weggeschickt hast. 22 Da seufzte Susanna und sagte: Ich bin bedrängt von allen Seiten: Wenn ich es tue, so droht mir der Tod; tue ich es aber nicht, so werde ich euch nicht entrinnen. 23 Es ist besser für mich, es nicht zu tun und euch in die Hände zu fallen, als gegen den HERRN zu sündigen.
Daraufhin bezichtigten die beiden Männer Susanna des Ehebruchs. Sie wurde zum Tod verurteilt.
Fast im letzten Augenblick, als Susanna schon zur Hinrichtung geführt wurde, griff Gott durch den jungen Daniel ein, der die beiden Männer der Lüge und Verleumdung überführte. Er fragte beide Männer, die er zuvor voneinander getrennt hatte, unter welchem Baum sie den Ehebruch gesehen hätten. Der eine nannte einen Mastixbaum, der andere eine Eiche. So wurde klar, dass die beiden Ältesten Susanna verleumdet hatten und wurden getötet.
Es handelt sich um eine Lehrerzählung, die zeigen soll, wie Gott die Frommen bewahrt, aber auch zeigt, dass auch unter den Führern des Volkes viel Gottlosigkeit und Bosheit herrscht.
Interessant ist, dass in der Erzählung ein Wortspiel zwischen den Namen der Bäume und dem Gericht Gottes über die Übeltäter vorkommt.
In der Septuaginta Deutsch lautet der Text so:
54 Nun also: Wenn du wirklich diese (Frau) gesehen hast, sage: Unter welchem Baum hast du sie miteinander verkehren gesehen? Der aber sagte: Unter einem Spaltbaum. 55 Daniel aber sagte: Richtig hast du gelogen gegen deinen eigenen Kopf; denn schon hat der Engel Gottes Weisung von Gott erhalten und wird dich mittendurch spalten. […]
58 Nun also sage mir: Unter welchem Baum hast du sie ertappt, während sie miteinander verkehrten? Der aber sagte: Unter einem Sägebaum. 59 Daniel aber sagte zu ihm: Richtig hast auch du gegen deinen eigenen Kopf gelogen. Denn der Engel Gottes bleibt (dastehen) mit dem Schwert, dich mittendurch zu sägen, um euch auszutilgen.
Bei dem „Spaltbaum“ handelt es sich um einen Mastix und beim „Sägebaum“ um eine Eiche. Diese Übersetzung hat versucht, die Wortspiele des griechischen Textes, die die Ähnlichkeit des jeweiligen Baumnamens mit der Strafe betonten, nachzuahmen. Diese Wortspiele zeigen, dass die Erzählung auf Griechisch verfasst wurde, da im Hebräischen oder Aramäischen diese Wortspiele nicht funktionieren. Da die Juden in Babylon nicht Griechisch gesprochen haben, ist klar, dass die ganze Geschichte ohne historische Grundlage ist. Es handelt sich um eine erbauliche Lehrerzählung.
Obwohl für die biblische Offenbarung die historische Grundlage von hoher Bedeutung ist, kann man nicht ausschließen, dass auch eine unhistorische Lehrerzählung ihren Platz in der Bibel gefunden hat, wie es wohl beim Buch Ester der Fall ist. Doch gilt auch hier, dass diese Erzählung, die in der Heiligen Schrift, die Jesus vorlag, fehlte, auch für die Jünger Jesu nicht Heilige Schrift sein kann. Nicht jede schöne erbauliche Geschichte ist Heilige Schrift.
Bel und der Drache
In Daniel 14 kämpft Daniel gegen den Götzendienst der Babylonier. Daniel ist ein Vertrauter des Königs, der nach Theodotion Kyrus hieß, aber in der Septuaginta-Version ohne Namen blieb. Der König war ein eifriger Verehrer des Bel. Da Bel täglich zwölf Scheffel Feinmehl, vierzig Schafe und sechs Krüge Wein verzehrte, war der König vom Gottsein Bels überzeugt. Daniel wies mit einer detektivischen Methode nach, dass es die Priester mit ihren Familien waren, die nachts die Nahrung verzehrten. Die Priester wurden getötet und Bel und sein Heiligtum zerstört.
Danach tötete Daniel noch einen von den Babyloniern verehrten Drachen, indem er Pech, Talg und Haare nahm, alles zusammenschmolz, Kuchen daraus formte und diese dem Drachen ins Maul warf. Daraufhin zerbarst der Drache, der diese Kuchen gefressen hatte.
Die Babylonier waren erzürnt und verlangten vom König die Bestrafung Daniels, da sie sonst den König und seine Familie töten würden.
Daniel wurde in die Löwengrube geworfen, wo er sechs Tage unter sieben Löwen blieb, die üblicherweise täglich mit zwei Menschen und zwei Schafen gefüttert wurden.
In der Zwischenzeit brachte der Engel des Herrn den Propheten Habakuk, der sich in Juda gerade eine Mahlzeit gekocht hatte, an seinen Haaren nach Babylon an den Rand der Löwengrube. So sorgte Gott für das Essen Daniels. Als der König am siebten Tag zur Grube kam, um Daniel zu betrauern, erkannte er, dass der Gott Daniels der einzige Gott ist. Die Feinde Daniels wurden in die Grube geworfen und sofort aufgefressen.
Diese Geschichte unterscheidet sich von den anderen Ergänzungen zum Danielbuch durch überbordende Fantasie und Unkenntnis der Situation in Babylon. Falls mit dem König tatsächlich Kyrus gemeint sein sollte, so hat er sich zwar im Kyrus-Zylinder als Verehrer des Marduk (= Bel) bezeichnet, was aber eher aus politischen Gründen als aus Überzeugung geschah. Man weiß nichts vom Kult einer vergöttlichten Schlange in Babel.1 Der Prophet Habakuk hat wohl um das Jahr 600 gelebt. Das geht sich mit der Herrschaft von Kyrus, der 539 in Babylon einzog, nicht aus. Außerdem wäre das eine höchst seltsame Nahrungsversorgung.
Die Geschichte von der Löwengrube ist wohl eine Dublette zu Daniel 6, wobei auch dieses Kapitel als Lehrerzählung zu verstehen ist – allerdings mit mehr geistlicher Tiefe als das apokryphe Kapitel 14.
Mir scheint auch, dass die Methoden „Daniels“ in seinem Kampf gegen den Götzendienst sich von denen der biblischen Propheten unterscheiden. In Daniel 14 erscheint der Prophet als ein schlauer Detektiv, der die betrügerischen Machenschaften der Priester aufdeckte, und als ein gewitzter Mann, der wusste, wie man Drachen oder Schlangen durch entsprechendes Futter tötet. Diese Geschichte lässt geistliche Tiefe vermissen.
Die Zusätze zu Daniel befinden sich auf unterschiedlichem geistlichem Niveau. Die beiden Gebetstexte aus Kapitel 3 sind durchaus den Psalmen vergleichbar. Die Geschichte über die gottesfürchtige Susanna kann zur Treue zu Gottes Geboten ermuntern. Die Erzählung über Bel und den Drachen hat eher das Niveau volkstümlicher Unterhaltungsliteratur.
Alle Zusätze waren nicht in der hebräisch-aramäischen Bibel Jesu und können daher auch nicht in der Bibel der Jünger Jesu sein. Wir finden auch im Neuen Testament kein einziges Zitat aus diesen Texten.
- So die Fußnote der Jerusalemer Bibel. ↩