Die ganze Welt kann die Bücher nicht fassen.

Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles einzeln aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die dann geschriebenen Bücher nicht fassen. (Johannes 21,25)

Mit diesem Vers schließt das Johannesevangelium. Er ähnelt den Schlussversen von Kapitel 20, ist aber doch anders.

30 Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. 31 Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen. (Johannes 20,30-31)

Die Grundaussage ist in beiden Stellen dieselbe: Es gäbe noch viel mehr über die Taten oder Zeichen (Wunder) Jesu zu berichten. In Johannes 20,31 lesen wir eine Begründung für die Auswahl, die der Evangelist getroffen hat: damit ihr glaubt …

Johannes 21,35 hingegen endet mit einer Übertreibung, die aber so offensichtlich ist, dass sie nicht wörtlich genommen werden kann.

Im Vergleich dieser beiden Stellen kann man auf den Gedanken kommen, dass der Schlussvers von Kapitel 21 eine Nachahmung des Schlusses von Kapitel 20 auf niedrigerem geistlichen Niveau ist.

Ich möchte zu diesem Vers drei Fragen nachgehen:

  1. Gehört dieser Vers zum Johannesevangelium?
  2. Wenn ja, wie soll man ihn verstehen?
  3. Was ist mit diesem Vers anders als mit einer ähnlichen Koranstelle?

Zur ersten Frage können zumindest Zweifel angemeldet werden. Der Kodex Sinaitikus aus dem 4. Jahrhundert enthielt diesen Vers ursprünglich nicht. Dieser wurde erst nachträglich eingefügt. Bei den älteren Papyrus-Handschriften haben wir das Problem, dass sie unvollständig sind. Bei P66 ist Kapitel 21 nur sehr fragmentarisch erhalten, sodass nicht festgestellt werden kann, ob Vers 25 enthalten war oder nicht. P75 ist nur bis zum 15. Kapitel erhalten, P45 nur bis zum 11. Kapitel. Kodex Vatikanus, ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert enthält den fraglichen Vers. Origenes hat diesen Vers im 3. Jahrhundert in seinen Schriften zitiert. Er war ihm also bekannt.

Johannes 21,24 ist ein Zeugnis über den Verfasser des Evangeliums. Es schließt an das Wort Jesu über den Johannes an, das zu Missverständnissen geführt hat. In Vers 24b heißt es:

[…] und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.

Das spricht dafür, dass es sich hier um ein Zeugnis der Johannes nahestehenden Gemeinde über den Apostel handelt. Dieses Zeugnis würde einen guten Abschluss des Evangeliums bilden. Es wäre also gut möglich, dass Vers 25 erst später zugefügt wurde. Mit Sicherheit kann das aber nicht behauptet werden. Es wäre möglich, dass die Gemeinde, die das Zeugnis für den Apostel ablegt, noch einmal festhalten wollte, dass das Evangelium keine vollständige Beschreibung der Taten Jesu ist. Zu beachten ist allerdings, dass Vers 24b in der 1. Person Plural (wir) formuliert wurde, Vers 25 aber in der 1. Person Singular (ich), was wieder dafür sprechen würde, dass dieser Vers von anderer Hand hinzugefügt wurde.

Falls dieser Vers ein authentischer Bestandteil des Evangeliums ist, ist wichtig zu beachten, dass (wie auch in 20,30-31) ausschließlich von den Taten Jesu die Rede ist, von denen bei Weitem nicht alle aufgeschrieben wurden. Diese Aussage wird nicht über die Lehre Jesu getroffen. Es gibt keine Geheimlehren Jesu, die man nur in äußerst fragwürdigen späteren gnostischen Texten finden kann. Die Lehre Jesu ist vollständig in den vier kanonischen Evangelien enthalten.

Johannes, der mindestens ein synoptisches Evangelium gekannt haben muss, hat viel weniger Wunder als die anderen Evangelien berichtet. Er hat eine bewusste Auswahl aus der Fülle von Wundertaten des Herrn getroffen. Die Aussage, dass die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, ist eine offensichtliche Übertreibung, das rhetorische Stilmittel der Hyperbel. Der Schreiber konnte voraussetzen, dass seine Leser ihn korrekt verstehen. Aber es steht fest, dass Jesus sehr viele Wunder gewirkt hat, die auch in den synoptischen Evangelien nur in Sammelberichten zusammengefasst werden (z. B. Matthäus 4,24).

Ich habe in einem früheren Beitrag auf Sure 18,109 hingewiesen, als ein Argument dagegen, dass der Koran das ewige unveränderliche Wort Gottes sei.

Sag: Wenn das Meer Tinte für die Worte meines Herrn wäre, würde das Meer wahrlich zu Ende gehen, bevor die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn Wir als Nachschub noch einmal seinesgleichen hinzubrächten.

Liegt hier nicht auch das Stilmittel der Hyperbel vor? Ja, durchaus. Doch was will diese Hyperbel sagen? Dass das Wort Gottes unbeschreiblich groß ist, dass es viel größer ist, als es sich ein Mensch vorstellen kann. Dem ist zuzustimmen.

Doch wie passt dieses unbeschreiblich große Wort Gottes zwischen zwei Buchdeckel auf weniger als 1000 Seiten? Wenn die Aussage von Sure 18,109 stimmt, ist der Koran nicht das ewig unveränderliche vollkommene Wort Gottes. Das Problem ist nicht, dass es in einer Heiligen Schrift nicht das Stilmittel der Übertreibung geben dürfte, sondern dass die Aussage dem islamischen Dogma widerspricht. Dass es daneben noch andere Probleme wie eine mangelhafte Überlieferung, die Verwendung legendenhafter Quellen (z. B. hier) und zahlreiche inhaltliche Probleme gibt, sei hier nur am Rande erwähnt.

Unabhängig davon, ob Johannes 21,25 authentisch ist oder nicht, dürfen wir dankbar sein, dass Gottes ewiges Wort in Jesus Christus Mensch geworden ist, und dafür, dass Gott dafür Sorge getragen hat, dass seine Worte und Taten verlässlich überliefert worden sind.

Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen. (Johannes 20,30)

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