Auch die beiden Männer, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden, beschimpften ihn. (Markus 15,32b)
Ebenso beschimpften ihn die beiden Räuber, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden. (Matthäus 27,44)
Im Rahmen ihres Berichts über die Kreuzigung und das Sterben Jesu erwähnen Markus und Matthäus kurz, dass auch die beiden mit ihm gekreuzigten Männer Jesus beschimpften.
In der ausführlicheren Darstellung von Lukas sieht das anders aus:
39 Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht der Christus? Dann rette dich selbst und auch uns! 40 Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. 41 Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. 42 Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst! 43 Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lukas 23,39-43)
Lukas zufolge hat nur einer der beiden Verbrecher Jesus verhöhnt. Der andere hat die ihm durch die Begegnung mit Jesus gebotene Gnade zur Umkehr genützt.
Johannes berichtet in 19,18 nur darüber, dass zwei andere mit ihm gekreuzigt wurden, schreibt aber nichts über deren Verhalten Jesus gegenüber.
Wie war es wirklich? Hat Lukas eine fromme Legende eingeschoben oder vielleicht sogar selber erfunden? Oder wenn sich die Begebenheit tatsächlich so zugetragen hat, wie es Lukas schreibt, warum verschweigen Markus und Matthäus die Bekehrung dieses Mannes? Wird er dadurch nicht in ein schlechtes Licht gestellt?
Wer konnte das Gespräch zwischen Jesus und dem „rechten Schächer“ gehört haben?
Alle seine Bekannten aber standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm von Galiläa aus nachgefolgt waren und die dies mit ansahen. (Lukas 23,49)
C. P. Thiede schreibt1:
Damals, im Jahr 30 n. Chr., lag der Ort römischer Kreuzigungen, der Golgotha-Felsen, außerhalb der Stadtmauer, aber in unmittelbarer Nähe. […] Die Mauer verlief vor dem Felsen so, dass sie ein Art Oberrang eines griechischen Theaters abgab. Wer dort stand, konnte alles beobachten, ohne selbst in den Verdacht zu geraten, Angehöriger oder Anhänger zu sein.
Die Frauen und andere Jünger Jesu, die auf der Mauer gestanden haben mögen, konnten so mitbekommen, wie führende Juden und andere Menschen Jesus beschimpft haben. Sie konnten auch vernommen haben, dass einer der beiden Mitgekreuzigten bei dieser Verhöhnung Jesu mitmachte, und das fälschlicherweise auf beide bezogen haben. Den leisen Dialog zwischen dem anderen Mann und Jesus dürften sie nicht verstanden haben. Da war die Entfernung wohl zu groß.
Direkt beim Kreuz standen nach Johannes 19,25-26 einige Frauen, darunter die Mutter Jesu und bei ihr der „Jünger, den er liebte“, Johannes. Sie standen so nahe, dass sie mit Jesus sprechen konnten. Sie waren auch in der Lage zu hören, was die drei Gekreuzigten untereinander gesprochen haben.
Aus dem Lukasevangelium wird deutlich, dass Lukas entweder mit Maria noch persönlich sprechen konnte oder zumindest auf eine auf Maria zurückgehende Quelle Zugriff hatte. In den ersten beiden Kapiteln seines Evangeliums schreibt er über die Begebenheiten im Zusammenhang mit der Geburt und Kindheit Jesu vom Blickwinkel Marias aus, von der es heißt:
Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. (Lukas 2,19)
Seine Mutter bewahrte all die Worte in ihrem Herzen. (Lukas 2,51b)
Die zwei Anfangskapitel des Lukasevangeliums gehen in ihrem wesentlichen Inhalt auf die Mutter Jesu zurück. Lukas stand in einer direkten oder zumindest indirekten Beziehung zu ihr. So konnte Lukas mit Maria als Quelle auch über das Gespräch der Gekreuzigten und die Bekehrung des einen Mannes Bescheid wissen. Für Markus und Matthäus waren die beiden Verbrecher nur Nebenfiguren. Sie sind deswegen der Sache nicht mit derselben Akribie nachgegangen, wie es Lukas getan hat.
Es ist gut, dass Gott dafür gesorgt hat, dass das Evangelium von vier verschiedenen Schreibern aus vier unterschiedlichen Perspektiven geschrieben wurde. So können wir in der Zusammenschau aller vier Texte ein volleres Bild über Jesus gewinnen.
Denn wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe. (2 Petrus 1,16)
- Carsten Peter Thiede, Geheimakte Petrus, Stuttgart 2000, S.132-133. ↩