6 Gebt berauschenden Trank dem, der zusammenbricht, und Wein denen, die im Herzen verbittert sind! 7 Ein solcher möge trinken und seine Armut vergessen und nicht mehr an seine Mühsal denken. (Sprichwörter 31,6-7)
Wie soll man diese Verse aus dem Buch der Sprichwörter verstehen? Die Überschrift folgt der Lutherbibel. Luther, der der Überlieferung zufolge täglich ein bis zwei Liter Bier getrunken haben soll, hat das etwas drastischer ausgedrückt als die sonst von mir zitierte Einheitsübersetzung. Er hat auch das hebräische שֵׁכָ֣ר / šēkār, das meist mit „Rauschtrank“ übersetzt wird, mit „Bier“ wiedergegeben.
Gibt die Bibel wirklich den Rat, dass man Menschen in hoffnungsloser Situation Alkohol geben soll, damit sie dadurch ihre trostlose Lage vergessen? Bringt man dadurch nicht jemanden in einen Teufelskreis, weil zu den bereits vorhandenen Problemen noch die Abhängigkeit von Alkohol dazukommt, ohne dass sich dadurch irgendein Problem löst?
An anderen Stellen der Bibel, auch im Buch der Sprichwörter, wird vor Alkohol und Trunkenheit gewarnt.
Ein Zuchtloser ist der Wein, ein Lärmer das Bier; wer sich hierin verfehlt, wird nie weise. (Sprichwörter 23,1)
29 Wer hat Ach? Wer hat Weh? Wer Gezänk? Wer Klage? Wer hat Wunden wegen nichts? Wer trübe Augen? 30 Jene, die bis in die Nacht beim Wein sitzen, die kommen, um den Mischwein zu probieren. 31 Schau nicht nach dem Wein, wie er rötlich schimmert, wie er funkelt im Becher: Er trinkt sich so leicht! 32 Zuletzt beißt er wie eine Schlange, verspritzt Gift gleich einer Viper. 33 Deine Augen sehen seltsame Dinge, dein Herz redet wirres Zeug. 34 Du bist wie einer, der auf hoher See schläft, der einschläft über dem Steuer des Schiffes. 35 Man hat mich geschlagen, doch es tat mir nicht weh, man hat mich gehauen, aber ich habe nichts gespürt. Wann wache ich auf? Ich will weitermachen, ihn wieder suchen. (Sprichwörter 23,29-35)
Diese Stelle aus Kapitel 23 beschreibt bilderreich die Auswirkungen des Alkohols, im letzten Vers auch die Abhängigkeit, zu der er führt.
Auch in anderen Büchern finden wir Warnungen.
Wehe denen, die früh am Morgen dem Bier nachjagen und in der Dämmerung lange aushalten, wenn der Wein sie erhitzt. (Jesaja 5,11)
Wehe denen, die Helden sind im Weintrinken und Kraftprotze im Mischen von Rauschtrank. (Jesaja 5,22)
Berauscht euch nicht mit Wein – das macht zügellos -, sondern lasst euch vom Geist erfüllen! (Epheser 5,18)
Zum Verständnis von Sprichwörter 31,6-7 ist ein Blick auf den Zusammenhang hilfreich.
1 Worte an Lemuël, den König, prophetisches Wort. Mit ihnen hat seine Mutter ihn erzogen: 2 Was soll ich dir sagen, mein Sohn, was, du Sohn meines Schoßes, was, du Sohn meiner Gelübde? 3 Gib deine Kraft nicht den Frauen hin, dein Tun und Treiben nicht denen, die Könige verderben! 4 Könige sollen sich nicht, Lemuël, Könige sollen sich nicht mit Wein betrinken, Fürsten nicht berauschenden Trank begehren. 5 Er könnte beim Trinken seine Pflicht vergessen und das Recht aller Notleidenden verdrehen. 6 Gebt berauschenden Trank dem, der zusammenbricht, und Wein denen, die im Herzen verbittert sind! 7 Ein solcher möge trinken und seine Armut vergessen und nicht mehr an seine Mühsal denken. 8 Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! 9 Öffne deinen Mund, richte gerecht, verschaff dem Bedürftigen und Armen Recht! (Sprichwörter 31,1-9)
Es handelt sich um Worte der Mutter des Königs Lemuël an ihren Sohn. Lemuël war kein Israelit. In anderen Übersetzungen (z. B. Elberfelder) werden die Worte „prophetisches Wort“ als „von Massa“ wiedergegeben. Lemuël wäre dann der König eines arabischen Stammes namens Massa gewesen (vergleiche Genesis 25,14).
Die Mutter erteilte ihrem Sohn Ratschläge, wie er sich als König verhalten sollte. Sie warnte ihn vor der Gefahr, die ihm durch Frauen, gemeint ist wohl ausschweifende Sexualität, oder auch durch den Alkohol drohte. Gerade weil er als König eine große Verantwortung hatte und auch für das Recht der Notleidenden sorgen sollte, sollte er sich dem Alkohol fernhalten, sich zumindest nicht betrinken. In den Versen 8-9 werden dann seine Pflichten in positiver Weise formuliert. Die Aufgabe des Königs ist es, für die Stummen, die Schwachen, die Bedürftigen und Armen da zu sein, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ein derartiges Verhalten ist leider auch heute bei den Herrschern und führenden Politikern keineswegs selbstverständlich.
Die Verse 6-7 stellen einen Kontrast zu den Versen 4-5 dar. Der König soll sich vor dem Alkohol hüten. Wenn es für irgendjemanden Sinn hätte, seinen Trost im Alkohol zu suchen, dann für die Verbitterten und Notleidenden. In diesem Zusammenhang betrachtet ist das nun keineswegs eine Aufforderung an den König, sich um die Alkoholversorgung der Unterdrückten zu kümmern. Er soll ihnen ja, wie es in den Versen 8 und 9 gesagt wird, zu ihrem Recht verhelfen. Sie sollen aus ihrer Notlage herauskommen. Dann fällt auch der Grund zum Trinken weg. Die Verse 6 und 7 weisen nur darauf hin, dass es im Fall der Notleidenden irgendwie verständlich wäre, wenn sie ihre Zuflucht bei Wein und Rauschtrank suchen. Für einen König kommt das aber keinesfalls infrage.
Es stimmt gewiss, dass Lemuëls Mutter das missverständlich ausgedrückt hat. Das zeigt uns auch, dass Inspiration nicht heißt, dass jedes Wort der Bibel direkt von Gott diktiert worden ist. In diesem Fall war die Autorin dieses Wortes nicht einmal aus dem Volk Israel. Sie hat aus ihrer Lebenserfahrung heraus gesprochen und ihrem Sohn wichtige Ratschläge mitgeben wollen, nämlich dass er im Umgang mit Frauen und Alkohol vorsichtig sein soll und sich um die Anliegen der Armen und Unterdrückten kümmern soll. Die Verse 6 und 7 sind zum Ausdrücken dieses Anliegens nicht notwendig. Diese Worte hätten auch unterbleiben können.
Vielleicht wollte der Redaktor des Buches, das eine Zusammenstellung israelitischer Volksweisheit darstellt, auch einen Kontrast aufzeigen. Er hat im Schlusskapitel auch ein Beispiel nichtisraelitischer Weisheit aufgenommen, das in der Grundaussage richtig, aber in einem Nebengedanken doch sehr missverständlich ist.
Auch Arme und Unterdrückte sollen ihre Zuflucht und ihren Trost nicht beim Alkohol, sondern bei Gott suchen. Im Buch der Psalmen gibt es viele Beispiele dafür, dass Menschen in ihrer Not zu Gott um Hilfe geschrien haben, wie z. B. in Psalm 88.
Einige andere Beispiele:
Neige dein Ohr, HERR, und gib mir Antwort, denn elend und arm bin ich! 2 Beschütze mich, denn ich bin dir ergeben! Rette, du mein Gott, deinen Knecht, der auf dich vertraut! (Psalm 86,1-2)
2 Vernimm, Gott, mein Bittgebet, verbirg dich nicht vor meinem Flehen! 3 Achte auf mich und erhöre mich! Klagend irre ich umher und bin verstört 4 wegen des Geschreis des Feindes, unter dem Druck des Frevlers. Denn sie überhäufen mich mit Unheil und befehden mich voller Grimm. (Psalm 55,2-4)
2 Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zu Gott, dass er mich hört. 3 Am Tag meiner Not suchte ich den Herrn;/ unablässig erhob ich nachts meine Hände, meine Seele ließ sich nicht trösten. (Psalm 77,2-3)
Unsere Sorgen sollen und dürfen wir Gott anvertrauen.
Wirf deine Sorge auf den HERRN, er wird dich erhalten! Niemals lässt er den Gerechten wanken. (Psalm 55,23)
Werft alle eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um euch! (1 Petrus 5,7)
Für die Nachfolger Jesu kommen auch noch der Zuspruch und die Hilfe von Brüdern und Schwestern dazu, die nicht nur vor der Gefahr des Alkohols bewahrt, sondern durch das brüderliche Teilen auch davor, in hoffnungslose Notlagen zu geraten.
Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt. (Apostelgeschichte 4,34a)
Behüte mich, Gott, denn bei dir habe ich mich geborgen! 2 Ich sagte zum HERRN: Mein Herr bist du, mein ganzes Glück bist du allein. (Psalm 16,1-2)