Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht. (Apostelgeschichte 17,28)
Als Paulus auf dem Areopag zu den Athenern redete, hatte er eine andere Zuhörerschaft vor sich als sonst. Hier sprach er nicht zu Juden oder den jüdischen Glauben an einen Gott teilenden „Heiden“, sondern zu echten mit der griechischen Philosophie vertrauten Heiden.
Ich möchte mich hier nicht mit allen Aspekten dieser Paulusrede beschäftigen, sondern vor allem mit Vers 28, wo Paulus Aratos von Soloi (ca. 310 – 245 v. Chr.) wörtlich zitierte und zugleich wohl auf eine ähnliche Formulierung bei Kleanthes (ca. 331 – 232 v. Chr.) anspielte. Paulus sprach ja von „einigen von euren Dichtern“.
Beide haben aber nicht vom Gott Israels gesprochen, sondern von Zeus, dem obersten olympischen Gott.
Aratos, der – ebenso wie später Paulus – aus Kilikien stammte, beschrieb in seinem Lehrgedicht Φαινόμενα / Phainómena den Sternenhimmel. Das Zitat findet sich in der Einleitung des Gedichts im 5. Vers.
In der Wiedergabe von Heinrich Johann Voss1 lautet der Anfang des Gedichts:
Zeus sei unser Beginn, und niemals bleib‘ er uns Männern
Ungelobt. Voll wahrlich des Zeus sind alle des Wandels
Weg; und alle Versammlung der Welt, voll jegliche Meerflut,
Jeglicher Port; ringsum ja des Zeus bedürfen wir alle.
Seines Geschlechts auch sind wir; und Er, mildherzig den Menschen,
Zeichnet, was frommt, rechtsher; und zu Thätigkeit weckt er die Völker […]
Bei Kleanthes fängt sein Hymnos auf Zeus so an:
Heil dir, erhabenster Gott, mit zahlreichen Namen Verehrter,
stets Allmächtiger, Zeus, du Fürst der Natur, der du alles
lenkst nach der Satzung, dich dürfen ja sämtliche Sterblichen grüßen:
Dir entstammen wir, stellen von allem, was sterblich auf Erden
lebt und wandelt, als einzige dar das Abbild der Gottheit.
Wollte Paulus den Athenern vermitteln, dass es im Grunde zwischen dem Glauben an Zeus und dem Glauben an den Gott Israels doch keinen wesentlichen Unterschied gab? Das wäre eine nachträgliche Rechtfertigung für Antiochus IV. Epiphanes gewesen, der 167 v. Chr. den jüdischen Tempel in Jerusalem in einen Zeustempel umgewandelt hatte. Wollte Paulus einen interreligiösen Dialog führen, bei dem das von vornherein angestrebte Ergebnis war, dass ohnehin alle dasselbe glauben, auch wenn sie die Gottheit mit einem anderen Namen benennen und unterschiedliche Rituale praktizieren?
Dass das nicht die Absicht von Paulus war, zeigt der Zusammenhang der Rede.
Bereits in Vers 16 heißt es:
Während Paulus in Athen auf sie wartete, wurde sein Geist von heftigem Zorn erfasst; denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern.
In Vers 23 sagte Paulus:
Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch.
Von daher sollte klar sein, dass Paulus nicht meinte, dass der wahre Gott der den Athenern bekannte Zeus war.
Paulus fuhr fort:
24 Der Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. 25 Er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas brauche, er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. 26 Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. 27 Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. (Apostelgeschichte 17,24-27)
Der unbekannte Gott – und nicht Zeus – ist der Schöpfer, der nicht in Tempeln wohnt, der den Dienst von Menschenhänden nicht braucht, der keinem Menschen fern ist.
Wenn Paulus anschließend Worte, die vom Dichter auf Zeus bezogen wurden, auf den wahren Gott anwendet, so war die Botschaft, dass diese Aussagen über Zeus auf den den Athenern noch unbekannten Gott zutreffen, der aber der einzig wahre Gott ist.
Da die Philosophen die Offenbarung Gottes an Israel entweder nicht oder nur sehr fragmentarisch kannten, haben sie das, was sie aus der Schöpfung über den Schöpfer erkennen konnten, auf Zeus bezogen, der in ihrer Religion und Kultur der höchste Gott war.
Paulus hat die Griechen nicht einfach für ihren Götzendienst getadelt. Er hat positive Ansatzpunkte, die in ihrer Religion oder Philosophie gegeben waren, gefunden, um darauf aufzubauen. Auch wenn er die heidnische Religion als Götzendienst abgelehnt hat, wollte er den Götzendienern den Weg zur Erkenntnis des wahren Gottes leicht machen. Sie sollten aber, wenn sie sich tiefer interessierten, erkennen, dass die von den Philosophen über Zeus gemachten Aussagen auf den ewigen Schöpfer hinwiesen, der auch Zeus nach der griechischen Mythologie nicht war, da er doch als Sohn des Kronos galt.
Paulus wollte seinen Zuhörern eine Brücke bauen, bei der sie nicht alles, was sie bisher geglaubt hatten, als falsch beurteilen mussten. Aber er wusste, dass sie über diese Brücke auch gehen mussten, um die Wahrheit Gottes zu erkennen.
Mit der Aussage „Wir sind seines Geschlechts“ begründete Paulus die Ablehnung der bildlichen Darstellung des Göttlichen (Vers 29), die für die Griechen sehr wichtig war. Er sprach weiter über die Notwendigkeit der Umkehr und über das kommende Gericht durch Jesus, den Gott aus den Toten erweckt hatte (Verse 30-31). Paulus wollte also keineswegs ausdrücken, dass im Grunde ohnehin alle dasselbe glauben. Er rief die Menschen zur Umkehr und zum Glauben an den einzigen wahren Gott.
„Wir sind seines Geschlechts.“ Mit diesem Satz ist nicht gesagt, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Für Paulus war klar, dass man nur durch den Glauben an Jesus Kind Gottes wird.
Denn die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. (Römer 8,14)
Der Mensch ist von Gott geschaffen. Von allen materiellen Geschöpfen ist der Mensch dem Schöpfer ähnlicher und näher als alle anderen Geschöpfe. Das ist das, was damit gemeint ist, wenn es in Genesis heißt:
Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. (Genesis 1,27a)
Eine ähnliche Aussage finden wir auch bei Kleanthes:
Dir entstammen wir, stellen von allem, was sterblich auf Erden lebt und wandelt, als einzige dar das Abbild der Gottheit.
Allerdings ist bei diesem Zitat die deutsche Übersetzung dem Bibelwort ähnlicher als im Griechischen.
In dieser Weise ist der Mensch von „Gottes Geschlecht“. Er stammt von Gott und ist auf ihn hin ausgerichtet. Nur in der Beziehung zu ihm findet er seine Erfüllung und wird so zu einem Kind Gottes in einem tieferen Sinn.
Im vollen Sinn hat sich Gott nur in seinem ewigen Sohn Jesus Christus offenbart. Deswegen ist er der einzige Weg zum Vater.
Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Johannes 14,6)
- Des Aratos Sternerscheinungen und Wetterzeichen. Übersetzt und erklärt von Johann Heinrich Voss, Heidelberg 1824; S. 3. ↩