Paulus‘ erster Besuch in Jerusalem

Einige Zeit nach seiner Bekehrung und Berufung zum Apostel kam Saulus (= Paulus) das erste Mal nach Jerusalem. Darüber gibt es zwei Berichte im Neuen Testament, die auf den ersten Blick nicht übereinstimmen.

Lukas schreibt in der Apostelgeschichte:

26 Als er nach Jerusalem kam, versuchte er, sich den Jüngern anzuschließen. Aber alle fürchteten sich vor ihm, weil sie nicht glaubten, dass er ein Jünger war. 27 Barnabas jedoch nahm sich seiner an und brachte ihn zu den Aposteln. Er berichtete ihnen, wie Saulus auf dem Weg den Herrn gesehen habe und dass dieser zu ihm gesprochen habe und wie er in Damaskus freimütig im Namen Jesu aufgetreten sei. 28 So ging er bei ihnen in Jerusalem ein und aus, trat freimütig im Namen des Herrn auf 29 und führte auch Streitgespräche mit den Hellenisten. Diese aber planten, ihn zu töten. 30 Als die Brüder das erkannten, brachten sie ihn nach Cäsarea hinab und schickten ihn von dort nach Tarsus. (Apostelgeschichte 9,26-30)

Paulus selber schrieb darüber im Galaterbrief:

15 Als es aber Gott gefiel, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, 16 in mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Völkern verkünde, da zog ich nicht Fleisch und Blut zu Rate; 17 ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. 18 Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. 19 Von den anderen Aposteln sah ich keinen, nur Jakobus, den Bruder des Herrn. 20 Was ich euch hier schreibe – siehe, bei Gott, ich lüge nicht. 21 Danach ging ich in das Gebiet von Syrien und Kilikien. (Galater 1,15-21)

Nach dem Text der Apostelgeschichte könnte man annehmen, dass Paulus schon kurze Zeit nach seiner Bekehrung nach Jerusalem gekommen wäre, weil den Jüngern in Jerusalem noch unbekannt war, dass Paulus Christ und Apostel geworden war. Nach Paulus‘ eigenen Worten geschah das aber erst drei Jahre später, wobei nach damaliger jüdischer Zählweise jedes begonnene Jahr zählte. Es hätten also auch etwas weniger als zwei Jahre sein können. Da Paulus zuvor die Gemeinde in Jerusalem hart verfolgt hatte, ist es aber auch verständlich, dass die zuvor von ihm verfolgten Jünger skeptisch waren und ihm nicht trauten.

Beide Berichte sind in Einheit darüber, dass es sich um den ersten Besuch nach seiner Bekehrung handelte, und auch in Einheit über seinen nächsten Aufenthaltsort. Tarsus, wohin ihn die Jünger schickten, war in Kilikien.

Dass Paulus im Galaterbrief nicht über seine Missionstätigkeit in Jerusalem und die darauffolgende Verfolgung schrieb, lässt sich dadurch erklären, dass das im konkreten Zusammenhang des Galaterbriefs nicht relevant war.

Das wesentliche Problem ergibt sich bei der Frage, mit wem Paulus in Jerusalem zusammen war.

Laut dem Bericht von Lukas habe Barnabas Paulus zu den Aposteln gebracht und ihnen über die Erscheinung des Herrn vor ihm und seine Verkündigung in Damaskus erzählt. Daraufhin sei Paulus bei ihnen (d. h., den Aposteln) aus und eingegangen.

Nach dem Selbstzeugnis von Paulus habe er von den Aposteln nur Kephas (=Petrus) gesehen, bei dem er fünfzehn Tage blieb. Sonst habe er nur Jakobus, den Bruder des Herrn gesehen.

Wie passt das zusammen?

Ein Punkt, den wir bedenken sollen, ist, dass die Jünger in Jerusalem täglich Gemeinschaft hatten (Apostelgeschichte 2,46). Das setzt voraus, dass Paulus während der zwei Wochen nicht nur mit Petrus zusammen war, sondern auch mit allen, die in derselben Hausgemeinde wie Petrus waren. Darunter könnten auch andere der Zwölf gewesen sein. Da es in Jerusalem mehrere tausend Christen gab, von denen wahrscheinlich viele wieder nach Jerusalem zurückgekehrt sind, nachdem sie die Stadt wegen der Verfolgung verlassen mussten (Apostelgeschichte 8,1), ist es aber wahrscheinlicher, dass die zwölf Apostel sich nicht auf eine einzige Hausgemeinde konzentriert haben, sondern in unterschiedlichen Hausgemeinden am Gemeindeleben teilnahmen. Nach Apostelgeschichte 12,12 ist es wahrscheinlich, dass die Hausgemeinde von Petrus sich im Haus der Maria, der Mutter von Johannes Markus, einem Verwandten von Barnabas (Kolosser 4,10) traf. Das passt auch gut dazu, dass es Barnabas war, der Paulus zu den Aposteln brachte.

Zum besseren Verständnis der Darstellung im Galaterbrief ist es hilfreich, sich mit der Wortbedeutung der in der Einheitsübersetzung mit „kennenlernen“ und „sehen“ übersetzten Verben zu beschäftigen. Wollte Paulus Petrus nur kennenlernen und hat er von den anderen Aposteln keinen auch nur einen Augenblick gesehen?

Zur Erklärung dieser Wörter stütze ich mich auf: Thorleif Boman, Die Jesus-Überlieferung im Lichte der neueren Volkskunde, Göttingen 1967, S.62-68.

Das meist mit „kennenlernen“ übersetzte Verb ἱστορέω / historéō kommt im Neuen Testament nur in Galater 1,18 vor. Um die Wortbedeutung feststellen zu können, ist man auf außerbiblische Belegstellen angewiesen. Boman kommt nach der Prüfung der Stellen, die für die Bedeutung „kennenlernen“ angeführt werden, zum Schluss:1

[…] dass ἱστορέω nirgends die Bedeutung „einen Menschen kennenlernen“ hat; aber in mehreren der Belegstellen ist „fragen“ oder „durch fragen erfahren“ die notwendige Übersetzung. Ιστορέω hat eine klare, durch empirische griechische Wissenschaft geschliffene Bedeutung erhalten. ἱστορία [historía] bedeutet „Forschung“, „durch eigene Beobachtung und Untersuchung gewonnene Erfahrung“, seit Platon und Aristoteles „empirische Wissenschaft“.

[…] Paulus ist also nach Gal. 1,18 nach Jerusalem hinaufgezogen, um Petrus auszufragen und um damit bestimmte Tatsachen festzustellen. Das ist der einzig mögliche Sinn des Satzes.

[…] aber Petrus konnte ihm etwas erzählen, was im Alten Testament nicht zu finden war und was aus der Offenbarung des Herrn vor Damaskus nicht erschlossen werden konnte, und das waren die Taten und Worte Jesu aus der Zeit, da Petrus sein Jünger war. Bisher hatte er davon nur aus zweiter Hand gehört; jetzt wollte er den bedeutendsten Jünger selbst fragen, ehe er sein Leben der Verkündigung des Herrn Jesus widmete. Er machte es gründlich, zwei Wochen hat er zum Fragen und Hören gebraucht.

Zum Wort für „sehen“ (εἶδον / eídon) schreibt Boman:2

Paulus gebraucht εἶδον mit persönlichem Objekt immer in der Bedeutung „besuchen“, „mit jemandem zusammen sein“ (1. Thess. 3,6; 1. Kor. 16,7; Röm. 1,11; Kol. 2,1; Phil. 1,27; 2,28; mit τὸ πρόσωπον τινος [tò prósōpon tinos „jemandes Angesicht“] 1. Thess 2,17; 3,10). Es besteht kein Grund anzunehmen, daß es hier eine andere Bedeutung hat, etwa anblicken […]

Es geht also nicht darum, dass Paulus die anderen Apostel nicht gesehen (im Sinne einer optischen Wahrnehmung) hat, sondern sie nicht aufgesucht hat, um länger mit ihnen zu reden. Das hat er aber bei Jakobus getan,

[…] um von Jakobus die Auskünfte zu erhalten, die ihm Petrus nicht geben konnte, nämlich ein Bild von Jesus aus seiner Kindheit und Jugend zu erhalten bis zu dem Tag, als er die Heimat verließ, um seine öffentliche Tätigkeit aufzunehmen. Deshalb nennt Paulus ihn hier sehr bedeutungsvoll „den Bruder des Herrn“ […]

Versteht man das Wort „sehen“ im Sinne von „besuchen“, „intensiv Gemeinschaft haben“, dann besteht zwischen der Darstellung der Apostelgeschichte und dem Bericht von Paulus im Galaterbrief kein Widerspruch. Paulus hat sich während der Zeit auf die Gespräche vor allem mit Petrus, aber auch mit Jakobus konzentriert. Das schließt nicht aus, dass er die anderen Apostel gesehen hat. Bei dem ersten Gespräch, als Barnabas ihn zu den Aposteln gebracht hat, waren wohl alle zugegen. Aber der Fokus von Paulus lag auf den Gesprächen mit Petrus und Jakobus.

Beide Autoren haben aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlicher Zielsetzung über dieselben Begebenheiten geschrieben und auf diese Weise einander ergänzt.


  1. Alle drei Zitate aus Boman, S. 66-67. 
  2. Dieses und das folgende Zitat aus Boman, S. 67. 

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