49 Deshalb hat auch die Weisheit Gottes gesagt: Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden und sie werden einige von ihnen töten und andere verfolgen, 50 damit das Blut aller Propheten, das seit der Erschaffung der Welt vergossen worden ist, von dieser Generation gefordert wird, 51 vom Blut Abels bis zum Blut des Zacharias, der zwischen Altar und Tempelhaus umgebracht wurde. Ja, das sage ich euch: An dieser Generation wird es gerächt werden. (Lukas 11,49-51)
Diese Worte sagte Jesus im Zusammenhang einer Rede gegen die Pharisäer und Gesetzeslehrer. Unmittelbar vorher geht es darum, dass die Gesetzeslehrer für die ermordeten Propheten Denkmäler errichten, aber gerade dadurch die Übeltaten ihrer Väter bestätigten. Wer die Propheten wirklich ehrt, baut ihnen keine Denkmäler, sondern achtet auf ihre Worte. Danach sprach Jesus über die Apostel und Propheten, die die Weisheit Gottes (nach der Parallele in Matthäus 23,34 ist damit Jesus selbst gemeint) senden wird, und denen es genauso ergehen wird wie den früheren Propheten.
Das Blut aller Propheten, das seit der Erschaffung der Welt vergossen wurde, sollte von dieser Generation gefordert werden. Ist das nicht ungerecht? Man ist ja nur für das verantwortlich, was man selber tut. Wollte Jesus wirklich sagen, dass seine Zeitgenossen für die Ermordung Abels und aller Gerechten nach ihm verantwortlich waren?
Warum erwähnte Jesus gerade diese beiden Personen?
Bei Abel ist es klar. Die in Genesis 4 erzählte Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain, war die erste Bluttat der Geschichte, zumindest im biblischen Rahmen.
Im Falle von Zacharias ist die Sache etwas schwieriger, da es im Alten Testament eine ganze Reihe1 von Trägern des Namens Sacharja gibt. Es wird aber nur von einem einzigen Sacharja gesagt, dass er im Tempel ermordet wurde.
19 Der HERR schickte Propheten zu ihnen, um sie zur Umkehr zum HERRN zu bewegen, aber man hörte nicht auf ihre Warnung. 20 Da kam der Geist Gottes über Secharja, den Sohn des Priesters Jojada. Er trat vor das Volk und hielt ihm vor: So spricht Gott: Warum übertretet ihr die Gebote des HERRN? So könnt ihr kein Glück mehr haben. Weil ihr den HERRN verlassen habt, wird er euch verlassen. 21 Sie aber taten sich gegen ihn zusammen und steinigten ihn auf Befehl des Königs im Hof des Hauses des HERRN. (2 Chronik 24,19-21)
Nach der Parallele in Matthäus 23,35 war der Ermordete aber Zacharias, Barachias Sohn. Das könnte entweder der Prophet Sacharja, der Sohn Berechjas (Sacharja 1,1) gewesen sein, der nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil zum Wiederaufbau des Tempels aufrief und dessen Worte im biblischen Buch Sacharja überliefert sind. Oder es könnte sich um den in Jesaja 8,2 genannten Secharja, den Sohn Jeberechias handeln, der in der Septuaginta auch Zacharias, Barachias‘ Sohn heißt. Der nachexilische Prophet Sacharja war eine sehr bekannte Persönlichkeit, dessen Ermordung gewiss überliefert worden wäre. Der in Jesaja 8 erwähnte Secharja sollte als Zeuge für die Worte Jesajas dienen. Vermutlich war er eine angesehene Persönlichkeit, aber kein Prophet.
Das apokryphe Protoevangelium des Jakobus erzählt in Kapitel 23 über die Ermordung des Zacharias, des Vaters Johannes des Täufers im Tempel. Er wurde von den Schergen des Herodes getötet. Ein Name seines Vaters wird nicht genannt. Dieses apokryphe Werk ist aber als Geschichtsquelle nicht zu gebrauchen, sondern das Ergebnis einer frommen Fantasie. Vermutlich waren die Worte Jesu über den ermordeten Zacharias der Grund, warum der Schreiber des Protoevangeliums diese Geschichte erfunden hat.
Obwohl bereits Papyrus 77 aus dem 2. / 3. Jahrhundert den Namen Barachias bezeugt, ist wohl davon auszugehen, dass ein sehr früher Abschreiber diesen Namen eingefügt hat, weil der bekannte Prophet Sacharja ein Sohn Berechjas war. Im Kodex Sinaiticus fehlte die Nennung des Namens des Vaters ursprünglich und wurde nur später ergänzt. Im Lukastext wird kein Name des Vaters von Zacharias erwähnt. Die von Jesus genannten Umstände der Ermordung passen nur auf den in 2 Chronik 24 genannten Zacharias / Secharja,
Nimmt man die Bücher des Alten Testaments in der Reihenfolge der Hebräischen Bibel, dann ist das Chronikbuch das letzte Buch. Die Ermordung Sacharjas in 2 Chronik 24 ist der letzte im Alten Testament erwähnte Mord eines Gerechten – wenn man von der Reihenfolge der Bücher im Kanon ausgeht. In historischer Betrachtungsweise gab es auch später noch Morde.
Diese Erklärung zeigt auch, dass Jesus dem hebräischen Kanon des Alten Testaments folgte und nicht einem hypothetischen griechischen (Deutero-)Kanon. Allein aus diesem Grund sollte sich die Frage nach der Kanonizität der von den Katholiken anerkannten Apokryphen erübrigen.
Wenn Jesus von der ersten und letzten Ermordung eines namentlich genannten Gerechten im Alten Testament sprach, dann ergibt das einen guten Sinn. Das Alte Testament war die Vorbereitung auf das Kommen des Erlösers. Er hat die Verheißungen der Propheten erfüllt. Die Gegner des Messias fassen in gewisser Weise die Bosheit der Übeltäter zusammen. Die Tötung des Messias ist der Gipfelpunkt der Empörung gegen Gott.
Jesus wollte nicht sagen, dass seine Feinde persönlich Schuld an der Ermordung aller Gerechten zwischen Abel und Zacharias tragen. Aber die Bosheit, die zum Tod der Gerechten und Propheten geführt hat, findet ihren zusammenfassenden Höhepunkt in der Ermordung des Sohnes Gottes. Auch wenn Jesus in diesem Zusammenhang nur über die Tötung der von ihm ausgesandten Apostel und Propheten sprach, hat er seine eigene Ermordung, die er vor allem im Gespräch mit seinen Jüngern wiederholt angekündigt hat, vorausgesetzt.
Jesus hat gerade deswegen mit so scharfen Worten gesprochen, um die Menschen noch aufzurütteln. Durch ihre Umkehr hätten sie noch die Möglichkeit gehabt, dem Strafgericht zu entrinnen. Es gab auch viele Juden, die sich später der jungen Gemeinde angeschlossen haben, auch aus Kreisen der Priester und der Pharisäer.
Aber viele haben sich der Umkehr verweigert und haben sich dadurch verstärkt in eine politische Sicht des Gottesreichs hineinbegeben, was letztlich zum Aufstand gegen die Römer (an dem die Römer keineswegs unschuldig waren) und zur Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem geführt hat.
Der von Jesus getadelte Brauch, den ermordeten Propheten (und Märtyrern) Denkmäler zu errichten, hat sich einige Jahrhunderte später auch im offiziellen Christentum (oft in Form von Kirchengebäuden) eingebürgert. Es war dann gerade die offizielle „Kirche“, die die Jünger Jesu, die am Evangelium Jesu festgehalten haben, blutig verfolgt hat. Auch diese Kirchenführer haben sich mit der Bosheit der Mörder Abels und Zacharias‘ solidarisiert.
Jünger Jesu sind in dieser gottlosen Welt oft die Verfolgten und die Opfer. Aber gerade darin können sie ihrem Herrn die Treue bewahren.
Sei treu bis in den Tod; dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben. (aus Offenbarung 2,10)
- Laut Elberfelder Studienbibel sind es 28. ↩