Alles hat der HERR für seinen Zweck erschaffen, so auch den Frevler für den Tag des Unheils. (Sprichwörter 16,4)
Auf den ersten Blick kann man diesen Vers so verstehen, dass Gott den Frevler bereits als Frevler geschaffen hat, damit er ihn am Tag des Unheils bestrafen kann. Ist das wirklich das, was uns dieser Text sagen will?
Leider hilft uns der Zusammenhang nicht viel, da im Hauptteil des Buches der Sprichwörter (ab Kapitel 10) vor allem Einzelsprüche meist ohne besonderen Zusammenhang aneinandergereiht sind.
Der Vers zuvor lautet:
Befiehl dem HERRN dein Tun an, so werden deine Pläne gelingen. (Sprichwörter 16,3)
Der Vers danach:
Ein Gräuel ist dem HERRN jeder Hochmütige; er bleibt gewiss nicht ungestraft. (Sprichwörter 16,5)
Immerhin spricht Vers 5 von der Verantwortung des Menschen. Gott wird den Hochmütigen bestrafen. Das ist nur sinnvoll, wenn er für seinen Hochmut selbst verantwortlich ist.
Bemerkenswert ist auch, dass Vers 4 in der Septuaginta, der ältesten bereits vorchristlichen Übersetzung des Alten Testaments fehlt. Das setzt wahrscheinlich voraus, dass dieser Vers in der Übersetzungsvorlage nicht vorhanden war. Das muss aber nicht heißen, dass dieser Vers nicht zum Text des Buches gehört, da dem Übersetzer auch eine fehlerhafte Vorlage zur Verfügung gestanden haben mag. Es wäre natürlich die einfachste Möglichkeit, einen schwierigen Text dadurch zu „erklären“, dass man behauptet, dass dieser Text gar nicht zur Bibel gehört. In der Vulgata, der lateinischen Übersetzung, findet sicher dieser Vers, allerdings in einer etwas anderen Version:
Universa propter semet ipsum operatus est Dominus impium quoque ad diem malum.
Der Herr hat alles um seiner selbst willen gemacht/gewirkt, auch den Bösen für den bösen Tag.
Statt „für seinen Zweck“ heißt es „um seiner selbst willen“. Das lässt sich durch eine leicht unterschiedliche Vokalisierung erklären. Da im Hebräischen ursprünglich nur die Konsonanten geschrieben wurden und die Vokalzeichen erst nach der Übersetzung ins Lateinische im hebräischen Text gesetzt wurden, ist das leicht erklärbar, zeigt aber vielleicht auch, wie der hebräische Text um das Jahr 400 verstanden wurde.
Interessant ist auch, wie der Jude Martin Buber den Text übersetzt hat:
Alles wirkt ER für dessen Antwortgeben, so auch den Frevler für den Tag, da es bös wird.
Das hebräische Wort מַעֲנֶה / ma′anäh leitet sich von der Wurzel עָנָה / ′ānāh „antworten“ ab. Deswegen wird dieses Wort auch an allen anderen Stellen mit „Antwort“ übersetzt, auch in Sprichwörter 16,1. Nur für Sprichwörter 16,4 wird in den Wörterbüchern die Bedeutung „Zweck“ angegeben.
Was Buber mit seiner Version „für dessen Antwortgeben“ gemeint hat, ist mir nicht ganz klar. Wenn es um das Antwortgeben dessen, was ER (der HERR) gewirkt hat, geht, soll das dann heißen, dass alles Geschaffene seinem Gott Antwort geben soll, also Verantwortung vor seinem Schöpfer trägt? Und dass auch der Frevler am bösen Tag vor Gott für seine Übeltaten Rede und Antwort stehen muss?
Nach der jüdischen mittelalterlichen Erklärung von Raschi sollte der Vers so übersetzt werden:
Der HERR hat alles zu seinem Lob gemacht – sogar den Frevler für den Tag des Bösen.
Er beruft sich auf Psalm 147,7, wo ′ānāh für „loben“ steht. Doch meint das Wort dort wohl eher das Anstimmen, so wie es auch in der Einheitsübersetzung heißt:
Stimmt dem HERRN ein Danklied an, spielt unserem Gott mit der Leier!
Es stimmt natürlich, dass Gott alles zu seinem Lob gemacht hat. Es ist aber unwahrscheinlich, dass das die Bedeutung dieses Wortes in Sprichwörter 16,4 ist.
Es ist auch festzustellen, dass im Hebräischen nicht das Wort „schaffen“ steht. פָעַל / pā′al bedeutet „machen, wirken“, was auch dem Text der Vulgata entspricht. Der Unterschied mag nicht so groß erscheinen. Doch würde nach meinem Verständnis die Verwendung des Wortes „schaffen“ stärker in die Richtung weisen, dass Gott den Frevler schon als Frevler erschaffen habe.
Könnte man diesen Vers vielleicht so verstehen, dass Gott insofern alles wirkt, dass alles in seiner Hand ist und er alles unter Kontrolle hat? Alles hat seinen Zweck und seinen Sinn. Auch der Frevler, der sich der Autorität Gottes widersetzt, ist letztlich in seiner Hand und kann sich nicht der Verantwortung vor Gott entziehen. Auch das Gericht Gottes über den Frevler hat seinen Sinn. Es erweist die Gerechtigkeit Gottes und dient in dieser Weise dem Ruhm Gottes des Richters.
Doch der Wille Gottes ist die Umkehr und das Leben, wie er es durch den Propheten Ezechiel gesagt hat:
Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen – Spruch GOTTES, des Herrn – und nicht vielmehr daran, dass er umkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? (Ezechiel 18,23)
Im Hebräischen steht für den „Schuldigen“ in Ezechiel 18,23 dasselbe Wort wie in Sprichwörter 16,4 für den „Frevler“. Gottes Wille ist nicht der Tod, sondern das Leben. Auch für den Frevler. Doch geht das nicht ohne Umkehr, ohne Abwendung vom Bösen.
Durch Liebe und Treue wird Schuld gesühnt, durch Furcht des HERRN weicht man dem Bösen aus. (Sprichwörter 16,6)
In diesen Zusammenhang passt auch ein Wort aus dem apokryphen Buch der Weisheit:
Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. (Weisheit 11,24)
Auch wenn dieser Text nicht Heilige Schrift ist, ist er von einem gottesfürchtigen Juden geschrieben, der Gott tief verstanden hat. Weil Gott gut ist, hat er nur Gutes geschaffen. Er hat nichts geschaffen, was er verabscheut. So hat er auch den Frevler nicht als Frevler erschaffen. Weil Gott uns liebt, hat er uns als freie Wesen geschaffen. Ohne Freiheit gibt es keine Liebe. Die Freiheit lässt uns auch die Möglichkeit, zu unserem Schöpfer und seiner Liebe Nein zu sagen. Wir sind nicht die Marionetten Gottes, der uns nur das tun lässt, was seinem guten Willen entspricht. Er will, dass wir auf seine Liebe mit unserer Liebe antworten. Doch akzeptiert er auch unser Nein mit allen traurigen Konsequenzen. Keiner kann sich Gott entziehen. Wer den Weg des Frevels wählt, empfängt dafür seinen Lohn am Tag des Unheils. Doch ist es seine eigene Entscheidung, den Ratschluss Gottes für sein eigenes Leben verworfen zu haben.
32 Wer Zucht abweist, verachtet sich selbst; wer aber auf Mahnungen hört, erwirbt Verstand.
33 Die Furcht des HERRN erzieht zur Weisheit und Demut geht der Ehre voran. (Sprichwörter 15,32-33)