Für viele Menschen im westlichen Kulturraum stellt der Glaube an die Reinkarnation oder Wiederverkörperung eine Art Hoffnung dar. Der Wunsch, dass mit dem Tod doch nicht alles aus sein möge, oder auch die Sehnsucht danach, es in einem späteren Leben in dieser Welt besser zu machen, bestärkt diese Erwartung. In östlichen Religionen hingegen wird die Reinkarnation als eine Last betrachtet, der man entkommen will. Die Erlösung besteht gerade darin, dass man nicht mehr reinkarnieren muss, um ins All-Eine aufgenommen zu werden und darin zu verschmelzen. Das ist jetzt nur eine allgemeine Darstellung. Mir ist bewusst, dass es bezüglich der Reinkarnation sehr unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen gibt, mit denen ich mich hier aber nicht näher beschäftigen will, weil ich die entsprechenden hinduistischen (außer der Bhagavadgita) und buddhistischen Schriften ebenso wenig gelesen habe wie die Texte antiker Philosophen wie Pythagoras. Ich möchte mich daher auf grundsätzliche Gedanken beschränken.
Was ist der Mensch?
Ist der Mensch nur eine Seele, die sich in unterschiedlichen Körpern befinden kann? Ist der Körper nichts anderes als eine Hülle, die gewechselt werden kann? Oder ist jeder Mensch ein einmaliges Wesen, zu dem auch ein ganz konkreter Körper gehört? Ich bin mehr als mein Körper. Aber ich bin auch mein Körper. In einem anderen Körper wäre ich nicht derselbe Mensch. Mein Leib und meine Seele bilden eine unverwechselbare, einmalige Einheit. Das bin ich, das ist meine Identität.
Gewiss unterscheidet auch Paulus zwischen unserem „irdischen Zelt“ und dem „ewigen Haus im Himmel“.
Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. (2 Korinther 5,1)
Hier entspricht das „irdische Zelt“ unserem Leib, den wir hier in unserem irdischen Leben haben, und das „ewige Haus im Himmel“ unserem Auferstehungsleib. Aber das ist eine andere Sache, als wenn wir nach unserem Tod auf dieser Erde mit einem anderen irdischen Leib geboren werden. Das „irdische Zelt“, von dem Paulus schreibt, ist einmalig für unser einziges irdisches Leben, ebenso ist unser Auferstehungsleib, das „nicht von Menschenhand errichtete ewige Haus im Himmel“ einmalig für unser Dasein in der Ewigkeit. Im Grunde ist es derselbe Leib unter unterschiedlichen Bedingungen, wobei wir über den vergänglichen Leib auf dieser Erde relativ gut Bescheid wissen, über den unvergänglichen Auferstehungsleib nicht sehr viel mehr wissen, als dass er vollkommen sein wird.
Wenn aber gemäß der Lehre der Reinkarnation meine Seele nach dem Tod in einem anderen Leib wieder auf diese Welt kommen wird, stellt sich die Frage, ob das dann überhaupt noch ich bin? Ich bin doch in einem anderen Leib, der nicht der Identität meines früheren Leibes entspricht.
Nach meinem Verständnis vernachlässigt die Reinkarnationslehre die Bedeutung des menschlichen Leibes. Der Mensch wird auf seine Seele reduziert, die gewiss wichtig ist. Doch gerade die unauswechselbare Einheit von Leib und Seele macht das Wesen des Menschen aus.
Karma und Erinnerung
Karma bedeutet, dass alles, was ein Mensch tut, notwendigerweise eine Folge hat. Was wir an Gutem oder Bösem tun, bleibt nicht ohne Konsequenz. Wenn das nicht in diesem Leben geschieht, dann im nächsten. Auf diese Weise ist es möglich, eine Gerechtigkeit in der Welt anzunehmen. Wenn ein Bösewicht ein hohes Alter im Wohlstand erreicht und einen friedlichen Tod stirbt, heißt das nicht, dass seine Untaten ohne Konsequenz bleiben. Er erfährt die Folgen seiner Bosheit nach seiner Reinkarnation. Das Problem, das ich dabei sehe, ist, dass der Mensch (oder auch das Tier, die Pflanze oder das Gestein … je nach Variante der Reinkarnationslehre), als der er reinkarniert, von seinem bösen Vorleben nichts weiß. Hier fehlt ein wesentlicher Aspekt der Strafe, nämlich, dass man aus ihr lernen soll. Nur wenn ich weiß, wofür ich bestraft werde, führt die Strafe zu meiner Besserung. Nun aber erinnert sich ein Mensch nicht an sein früheres Leben und hat daher keine Ahnung, wofür er durch seine leidvolle Existenz bestraft wird. Es mag hier einige Ausnahmen geben, die behaupten, ihre früheren Inkarnationen zu kennen. Manche Menschen denken auch, dass sie das durch Hypnose herausfinden können. Doch die Erfahrung der allermeisten Menschen ist, dass sie keine Ahnung von irgendeiner früheren Existenz haben. Karma würde dann bedeuten, dass Menschen, die mit den bösen Taten eines anderen Menschen, der früher gelebt hat, nichts zu tun haben, für diese Übeltaten bestraft werden. Damit mag zwar einem anonymen Prinzip der Gerechtigkeit Genüge getan sein. Doch für die beiden involvierten Menschen, den, der Böses getan hat und den, der in einem späteren Leben die Konsequenzen dieser Bosheit zu tragen hat, ist es ungerecht. Der eine Mensch konnte seine Bosheit ausleben und trotzdem viel irdisches Glück erfahren, der andere wird für etwas bestraft, wovon er nichts weiß. Dieses Prinzip der „Gerechtigkeit“ führt in Konsequenz zu einer großen Ungerechtigkeit.
Durch dieses Denken besteht auch die Gefahr, dass die ungerechten Zustände in dieser Welt als Ausdruck einer göttlichen Gerechtigkeit gesehen werden. Wenn es jemandem in diesem Leben schlecht geht, ist das die Konsequenz seiner Bosheiten im früheren Leben. So werden Ungerechtigkeiten theologisch begründet und verfestigt. Ich sage nicht, dass das immer so sein muss. Die Gefahr ist aber gegeben.
Schlussfolgerung
Ich sehe in den beiden genannten Gedanken schwerwiegende Einwände gegen das Konzept der Wiederverkörperung. Diese Lehre wird dem leib-seelischen Wesen des Menschen nicht gerecht und ist in Gefahr, zur Verfestigung ungerechter Strukturen in der Gesellschaft zu führen.
Zur Frage, was die Bibel zur Reinkarnation sagt, gibt es einen eigenen Beitrag.