Haben die Juden die Schrift verfälscht?

Begehrt ihr (Muslime) denn, daß sie (die Juden) euch glauben, wo doch eine Gruppe von ihnen das Wort Allahs gehört und es dann, nachdem er es begriffen hatte, wissentlich verfälscht hat? (Sure 2,75)

An keiner einzigen Stelle, an der die Thora erwähnt ist, lässt der Koran auch nur den leisesten Gedanken an eine Verfälschung der den Juden gegebenen Heiligen Schrift aufkommen. Überdies lehrt der Koran z. B. in Sure 6,115, dass niemand die Worte Allahs abändern kann.

Vollkommen ist das Wort deines Herrn in Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Es gibt niemanden, der Seine Worte abändern könnte. Und Er ist der Allhörende und Allwissende.

Wie soll man dann Sure 2,75 verstehen? Widerspricht sich der Koran, was nach Sure 4,82 bedeuten würde, dass er nicht von Gott ist?

Der Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm merkt zu Sure 2,75 an:

Hier gilt die Vorhaltung an die jüdischen Rabbiner, die die offenbarte Schrift vorsätzlich und skrupellos verfälschten.

Offensichtlich verstehen heutige Muslime diese Stelle so, dass sie von der Schriftverfälschung durch jüdische Rabbiner spricht.

Der Text von Sure 2,75 spricht nicht von allen Juden, sondern von einer Gruppe von ihnen, die, nachdem sie das Wort Allahs gehört haben, es wissentlich verfälscht haben. Würde das nicht bedeuten, dass andere Gruppen unter den Juden das Wort nicht verfälscht haben?

Wenn wir die Überlieferung des Alten Testaments betrachten, so gibt es verschiedene Überlieferungsströme. Einerseits gibt es den hebräischen Text, der seit dem Altertum von jüdischen Gelehrten überliefert wurde. Vermutlich gab es, so lange der Tempel in Jerusalem stand, ein autoritatives Manuskript der kanonischen Schriften, das im Tempel aufbewahrt wurde.1 Nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. sorgten jüdische Gelehrte für die Bewahrung des Textes.

Unabhängig von den Juden haben die Samaritaner die Thora überliefert. Die übrigen Schriften des Alten Bundes wurden von ihnen nicht anerkannt. Die samaritanische Thora stimmt im Wesentlichen mit der der Juden überein.

Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. haben Juden in Alexandrien in Ägypten die Heilige Schrift ins Griechische übersetzt, die sogenannte Septuaginta. Diese Übersetzung wurde nach den Kommen Jesu in der christlichen Gemeinde verwendet. Diese hat auch diese danach von den Juden nicht mehr verwendete Version weiter überliefert.

Diese drei Überlieferungsstränge stimmen überein. Wann hätten die Juden die Schrift verfälschen sollen? Vor der endgültigen Trennung zwischen Juden und Samaritanern und vor der Übersetzung ins Griechische? Das müsste vor dem 3. vorchristlichen Jahrhundert geschehen sein.

Hätte da nicht Jesus als Prophet Gottes bemerken müssen, dass die Schrift verfälscht war? Es gibt aber von ihm kein einziges Wort darüber. Auch der Koran geht, wie bereits erwähnt, an allen Stellen, an denen er die Thora ausdrücklich erwähnt, davon aus, dass sie nach wie vor Autorität ist. So heißt es in Sure 3,93b:

Sag: Bringt doch die Tora bei und verlest sie dann, wenn ihr wahrhaftig seid.

Auch eine Überlieferung zeigt, dass Mohammed die Thora als authentisch anerkannt hat:

Überliefert von Abdullah Ibn Umar:

Eine Gruppe von Juden kam und lud den Gesandten Allahs nach Quff ein. So besuchte er sie in ihrer Schule.

Sie sagten: AbulQasim, einer von unseren Männern hat mit einer Frau Unzucht getrieben; sprich also das Urteil über sie. Sie legten ein Kissen für den Gesandten Allahs, der sich darauf setzte, und sagten: Bringt die Thora. Daraufhin wurde sie gebracht. Dann zog er das Kissen unter sich weg, legte die Thora darauf und sagte: „Ich glaube an dich und an Ihn: Ich glaube an dich und an den, der dich herabgesandt hat.“ (aus Sunan Abi Dawud 4449; übersetzt mit deepl.com)

Also war die Thora im 7. Jahrhundert noch unverfälscht. Das bedeutet, dass sie auch heute noch unverfälscht ist. Das ist durch Handschriften aus früherer Zeit belegbar.

Vielleicht ist Sure 2,75, sofern es sich nicht um einen Widerspruch im Koran handelt, anders zu verstehen.

Der größere Zusammenhang, der im Koran allerdings nicht immer leicht zu fassen ist, handelt in der Zeit von Mose, offensichtlich während der Wanderung durch die Wüste. In den Versen 66-70 geht es um das Schlachten einer Kuh, was die Volksgenossen Moses nur ungern taten und deswegen mit Mose lange über die Details dieser Kuh diskutierten. Letztlich wurde die Kuh doch geschlachtet (Vers 70). Auf wunderbare Weise wurde mit einem Stück dieser Kuh ein Mordopfer wieder zum Leben erweckt (Verse 72-73; mehr dazu hier). Vers 74 spricht von der darauffolgenden Verhärtung ihrer Herzen. In diesem Vers gibt es auch eine Anspielung auf den wasserspendenden Fels in der Wüste.

Bis Vers 74 geht es um das Volk Israel in der Wüste. Sollte man dann nicht auch Vers 75 in diesem Zusammenhang verstehen? Sie haben von Mose das Wort Gottes gehört, wollten es aber nicht akzeptieren. Darum haben sie es wissentlich anders verstanden, als es von Mose gemeint war. Mit dem geschriebenen Text der Thora hat das dann aber überhaupt nichts zu tun.

Schwieriger wird die Sache dann, wenn in Sure 2,75 mit der Anrede „ihr“ die Muslime gemeint sind, wie es die Übersetzung von Bubenheim und Elyas durch den eingeklammerten Ausdruck nahelegt. Man könnte den Vers dann vielleicht so verstehen, dass die Juden für sie unglaubwürdig sind, da sie bereits in der Wüste die Worte, die sie von Mose gehört haben, verdreht haben.

Oder man sieht Vers 75 im Zusammenhang mit Vers 76:

Und wenn sie diejenigen treffen, die glauben, sagen sie: „Wir glauben.“ Wenn sie aber untereinander allein sind, sagen sie: „Wollt ihr ihnen erzählen, was Allah euch (Juden) enthüllt hat, damit sie es vor eurem Herrn als Beweis vorlegen? Begreift ihr denn nicht?“

Der Tafsīr Al-Qur’ān Al-Karīm erklärt diesen Vers so:

In diesem Vers wird über die Verhaltensweise der Juden gegenüber den Muslimen zur Zeit des Propheten Muḥammad (a.s.s.) berichtet; sie täuschten den Muslimen den Glauben vor, und warnten heimlich einander davor, den Muslimen etwas von ihren Schriften, das das Prophetentum Muḥammads (a.s.s.) bestätigt, zu enthüllen.

Setzt diese Erklärung nicht auch voraus, dass die jüdischen Schriften damals unverfälscht waren? Den Juden wird vorgeworfen, dass sie den Muslimen nicht enthüllen wollten, was in ihren Schriften stand – oder was nach der fälschlichen Annahme des Autors dieses Korantextes dort stehen sollte. Es ginge dann nicht um eine Verfälschung des geschriebenen Textes, sondern um ein Verschweigen oder ein Verdrehen in der Auslegung.

Auch Vers 78 setzt voraus, dass die Schrift nicht verfälscht worden war:

Unter ihnen gibt es auch Schriftunkundige, die die Schrift nicht kennen, sondern nur Wunschvorstellungen hegen, und die doch nur Mutmaßungen anstellen.

Wenn die Schriftunkundigen die Schrift nicht kannten, bedeutet das, dass die Schrift nicht verfälscht worden ist. Hätten sie die Schrift gekannt, so hätten sie nicht Wunschvorstellungen gehegt und Mutmaßungen angestellt.

Hat sich da nicht Mohammed, oder wer immer diese Verse geschrieben haben mag, selbst das Urteil gesprochen? Er hat die Schrift nicht gekannt. Er hat nur Mutmaßungen angestellt, was darin stehen könnte. Mutmaßungen, die seinen Wunschvorstellungen entsprachen. Zumindest zum Teil trifft dann auch Sure 2,79 auf ihn zu:

Doch wehe denjenigen, die die Schrift mit ihren (eigenen) Händen schreiben und hierauf sagen: „Das ist von Allah“, um sie für einen geringen Preis zu verkaufen! Wehe ihnen wegen dessen, was ihre Hände geschrieben haben, und wehe ihnen wegen dessen, was sie verdienen.

Es trifft nur teilweise auf ihn zu, weil er seine Schrift nicht mit eigenen Händen geschrieben hat und weil er sie, soweit bekannt ist, auch nicht verkauft hat.

Der Autor hat natürlich nicht sich selbst gemeint. Es muss sich um seine Zeitgenossen gehandelt haben. Sollte es sich bei diesen Zeitgenossen um Juden gehandelt haben, dann hat das mit dem uns bekannten Alten Testament nichts zu tun. In der relevanten Handschriftenüberlieferung spielen arabische Juden aus dem 7. Jahrhundert keine Rolle. Möglicherweise könnte ein unter dem Namen Musailima bekannter Konkurrent Mohammeds gemeint sein, der sich ebenfalls als Prophet ausgab. Das ist aber nicht mehr als eine Vermutung. Klar ist jedoch, dass die in diesem Vers angesprochene Sache keinerlei Auswirkung auf den heutigen Text des Alten Testaments haben konnte. Die Überlieferung der Bibel hatte mit den Zeitgenossen Mohammeds nichts zu tun.

Für Christen ist der Koran ohnehin keine Autorität. Aber auch für Muslime sollte klar sein, dass man den Versen 75 und 79 der 2. Sure nicht zwingend entnehmen kann, dass die Bibel verfälscht ist. Würden diese Verse das tatsächlich behaupten, würde der Koran sich außerdem selbst widersprechen und damit zeigen, dass er nicht von Gott ist.

Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit. (Jesaja 40,8)


  1. Roger Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, London 1985, S. 80-86. 

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