15 Und die Geduld unseres Herrn betrachtet als eure Rettung. Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; 16 es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist einiges schwer zu verstehen und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, werden diese Stellen ebenso verdrehen wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben. (2 Petrus 3,15-16)
Die überwiegende Mehrheit der Theologen ist davon überzeugt, dass der 2. Petrusbrief nicht von Petrus geschrieben habe. In diesem Artikel habe ich geschrieben, warum ich dennoch von der Echtheit dieses Briefes überzeugt bin.
Der Hinweis auf die Paulusbriefe in 2 Petrus 3,15-16 wird als eines der Argumente dafür vorgebracht, dass dieser Brief nicht von Petrus stammen könne. Auch zu diesem Argument habe ich meine Gedanken im Artikel über die Echtheit der Petrusbriefe geschrieben (Punkt 2.2.8). In diesem Text ist nicht die Echtheit des Briefes das Thema, die ich als gegeben voraussetze.
Was können wir diesen Versen über Petrus und seine Beziehung zu Paulus entnehmen?
Petrus nennt Paulus „unseren geliebten Bruder“. Er verwendet dabei aber nicht den Majestätsplural, wie er von seinen angeblichen Nachfolgern auf dem „Stuhl Petri“ vielfach verwendet wurde. „Unser“ Bruder meint: der Bruder sowohl von Petrus als auch von den Empfängern seines Briefes, ganz ohne hierarchisches Gefälle. Es war die von Gott geschenkte Liebe, die sie miteinander verbunden hat.
Wenn Petrus von „allen seinen Briefen“ schreibt, setzt das nicht notwendigerweise die uns heute bekannte Sammlung der Paulusbriefe voraus, sondern alle Briefe, die zum Zeitpunkt, als Petrus seinen Brief schrieb, in den Christengemeinden bekannt waren. Falls sich der 2. Petrusbrief an dieselben Empfänger gerichtet hat wie der 1. Petrusbrief, dann waren auch Gemeinden darunter, die durch die Mission von Paulus entstanden sind.
[…] in Pontus, Galatien, Kappadokien, der Provinz Asia und Bithynien […] (aus 1 Petrus 1,1)
In Galatien und der Provinz Asia hat Paulus das Evangelium verkündet und war den dortigen Gemeinden persönlich bekannt. Die Briefe von Paulus blieben wurden rasch verbreitet. Ihre Kenntnis war nicht auf die jeweiligen Empfängergemeinden beschränkt.
Auch wenn die Empfänger des 2. Briefes andere als die des 1. Briefes gewesen sein sollten, haben sie zumindest einige Paulusbriefe gekannt.
Der Galaterbrief war einer der früheren Briefe, vielleicht sogar der älteste erhaltene Paulusbrief. Er muss sowohl Petrus als auch seinen Adressaten bekannt gewesen sein. Petrus wusste daher, dass Paulus in diesem Brief auch über einen Konflikt mit ihm geschrieben hat.
11 Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, habe ich ihm ins Angesicht widerstanden, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte. 12 Bevor nämlich einige von Jakobus eintrafen, hatte er mit den Heiden zusammen gegessen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete. 13 Und mit ihm heuchelten die anderen Juden, sodass auch Barnabas durch ihre Heuchelei mitgerissen wurde. 14 Als ich aber sah, dass sie nicht geradlinig auf die Wahrheit des Evangeliums zugingen, sagte ich zu Kephas in Gegenwart aller: Wenn du als Jude nach Art der Heiden und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heiden zwingen, wie Juden zu leben? (Galater 2,11-14)
Paulus schrieb den jungen Christen von Galatien ganz offen, wie er Kephas (= Petrus) „in Gegenwart aller“ zurechtgewiesen hat. Es ging um die Frage, wie das Zusammensein zwischen Judenchristen, die nach wie vor die alttestamentlichen Speisegebote hielten, und den Heidenchristen, die nach der Entscheidung der Versammlung in Jerusalem (Apostelgeschichte 15,28-29) nicht daran gebunden waren, praktiziert werden sollte. Das Verhalten von Petrus hat die Einheit zwischen Juden- und Heidenchristen gefährdet. Deswegen gab es die Zurechtweisung durch Paulus. Die Reaktion von Petrus ist nicht überliefert. Doch dürfen wir davon ausgehen, dass er die Ermahnung angenommen hat.
Petrus wusste, dass Paulus über diese Situation geschrieben hat. Er hatte trotzdem keine Scheu, die Paulusbriefe positiv zu erwähnen, auch wenn im Galaterbrief über sein Fehlverhalten geschrieben war. Petrus hatte aus dieser Situation gelernt und war demütig genug, das auch nicht zu verbergen.
Wenn Petrus geschrieben hat, dass in den Paulusbriefen „einiges schwer zu verstehen“ ist, hat er wohl nicht gemeint, wie Paulus den Zwischenfall in Antiochia dargestellt hat. Es scheint um Fragen der Lehre oder auch des Lebensstils zu gehen. Vielleicht haben sich die Verführer, die nach 2 Petrus 2,19 Freiheit versprochen haben, obwohl sie selber Sklaven des Verderbens waren, sich zu Unrecht auf die christliche Freiheit berufen, über die Paulus geschrieben hat (z. B. Römer 8,2; 2 Korinther 3,17; Galater 5,1), dabei aber andere Worte von Paulus ignoriert (z. B. Galater 5,13). Aber wir können nicht wissen, woran Petrus genau gedacht hat.
Petrus hat darauf hingewiesen, dass die Briefe von Paulus genauso verdreht werden können wie die übrigen Schriften. Dadurch hat Petrus diese Briefe mit den „übrigen Schriften“ auf eine Stufe gestellt und als Heilige Schrift anerkannt. Das Wort γραφή / graphē wird im Neuen Testament ausschließlich in der Bedeutung „Heilige Schrift“ verwendet. Dass manche Stellen schwer verständlich sind und verdreht werden, ändert nichts daran, dass die Briefe von Paulus Heilige Schrift sind. Das geschieht auch mit anderen Texten der Heiligen Schrift. Es liegt am Menschen, ob er den Worten der Schrift gehorchen will, oder ob er diese nach seinen eigenen Wünschen verdreht.
Wenn Petrus in Vers 15 schreibt, dass Paulus „mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben“ hat, bedeutet das nicht, dass seine Briefe nicht Heilige Schrift, sondern nur Produkt menschlicher Weisheit sind. Zum einen war ihm die Weisheit von Gott geschenkt. Zum anderen bedeutet Inspiration im christlichen Verständnis nicht, dass der Mensch ausgeschaltet und quasi zu einer Schreibmaschine Gottes degradiert wurde. Die Heilige Schrift ist Gottes Wort im Menschenwort. Paulus musste selber nachdenken, wie er seine Botschaft formuliert. Es geschah aber unter Gottes Führung, dass Paulus mit seinen eigenen Worten und in seinem eigenen Stil ausgedrückt hat, was Gott durch ihn sagen wollte.
Petrus war in Einheit mit Paulus. Die beiden Apostel waren nicht Gegenspieler, als die sie manche Theologen sehen wollten. Die Zurechtweisung durch Paulus hat Petrus nicht von ihm entfremdet. Er hat seine Briefe als Heilige Schrift anerkannt.