Wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. (Matthäus 20,28)
Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele. (Markus 10,45)
[…] der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, […] (1 Timotheus 2,6)
Jesus hat seinen Jüngern, denen es um die Plätze zu seiner Rechten und zu seiner Linken ging, sein eigenes Beispiel entgegengehalten. Die wahre Größe im Reich Gottes zeigt sich im Dienen. In diesem Zusammenhang hat Jesus über sich selbst als „Lösegeld“ gesprochen. Vermutlich hat sich Paulus im Brief an Timotheus auf dieses Wort Jesu bezogen, wenn auch er von dessen Hingabe als Lösegeld geschrieben hat, auch wenn er ein etwas anderes Wort verwendet hat (Matthäus / Markus: λύτρον / lýtron; 1 Timotheus: ἀντίλυτρον / antílytron).
Im Duden wird „Lösegeld“ definiert als:
Geld[betrag], mit dem ein Gefangener oder eine Geisel freigekauft werden soll oder wird.
Wenn wir dieses Wort wörtlich nehmen, stellt sich die Frage, an wen das Lösegeld, als das sich Jesus hingegeben hat, bezahlt worden ist. Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort.
Man könnte sagen: an Gott. Gewiss hat sich Jesus während seines ganzen Lebens und auch in seinem Tod an Gott hingegeben. Sein Leben und Sterben war vollkommene Hingabe an seinen Vater. Doch musste Jesus etwas bezahlen, um uns freizukaufen? Gott selber hat uns ja nicht als Sklaven oder Gefangene gehalten, die er nach Zahlung eines Lösegelds freigeben konnte. Wenn in der Bibel von einer Knechtschaft oder Sklaverei des unerlösten Menschen die Rede ist, ist es die Sklaverei der Sünde.
34 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde. […] 36 Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei. (Johannes 8,34.36)
Paulus schreibt:
17 Gott aber sei Dank; denn ihr wart Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen der Gestalt der Lehre gehorsam geworden, an die ihr übergeben wurdet. 18 Ihr wurdet aus der Macht der Sünde befreit und seid zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden. (Römer 6,17-18)
Wer ein „Sklave“ der Gerechtigkeit geworden ist, hat die Freiheit von der Sünde erfahren. Als „Sklave“ Gottes ist er wirklich frei geworden.
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! (Galater 5,1)
Wenn der unerlöste Mensch ein Sklave der Sünde ist, heißt das, dass Jesus das Lösegeld an den Satan bezahlt hat? Der Satan ist zwar in gewisser Weise der „Fürst dieser Welt”, weil die Menschen durch ihr Sündigen seinen Willen tun. Aber er ist kein Geschäftspartner Gottes oder Jesu, dem die Menschen abgekauft werden. In seinem Erlösungswerk hat Jesus nicht ein Geschäft mit Satan gemacht, sondern er hat ihn besiegt.
Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen. (Lukas 10,18)
Die Fürsten und Gewalten hat er entwaffnet und öffentlich zur Schau gestellt; durch Christus hat Gott über sie triumphiert. (Kolosser 2,15)
Man kann das Wort „Lösegeld“ nicht in dem Sinn verstehen, dass tatsächlich jemandem etwas bezahlt werden musste.
So wie die Zahlung eines Lösegelds die Befreiung eines Sklaven bewirkte, so hat die Hingabe Jesu die Freiheit derer zur Folge, die das Geschenk seiner Erlösung gläubig und dankbar annehmen. Es geht nicht um die Frage, an wen bezahlt wird, sondern es geht um das Ziel und das Ergebnis: die Freiheit der von der Sünde Erlösten.
Bei der Erlösung geht es nicht um Kaufen und Verkaufen, sondern um eine Beziehung. Jesus hat durch seine Liebe und Hingabe Feinde Gottes zu dessen Kindern gemacht.
Den Gedanken, dass Gott sein Volk freigekauft hat, finden wir mehrmals im Alten Testament, ohne dass die Frage gestellt wird, um welchen Betrag Gott es erworben hätte.
Weil der HERR euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat, deshalb hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt und dich aus dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. (Deuteronomium 7,8)
Welches andere Volk auf der Erde ist wie dein Volk Israel? Wo wäre ein Gott hingegangen, um ein Volk für sich als sein Volk freizukaufen und ihm einen Namen zu machen und für dieses Volk große und erstaunliche Taten zu vollbringen, so wie du ganze Völker und ihre Götter vertrieben hast vor den Augen deines Volkes, das du dir von den Ägyptern freigekauft hast? (2 Samuel 7,23)
Fürwahr, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und dich freigekauft aus dem Sklavenhaus. Ich habe Mose vor dir hergesandt und Aaron und Mirjam. (Micha 6,4)
Diese Beispiele mögen zeigen, dass es um den Aspekt der Befreiung ging, nicht um das Bezahlen einer Summe Geldes.
Eine neuer Ansatz
Einen neuen Ansatz zur Erklärung dieser Stellen liefern Norbert Baumert und Maria-Irma Seewann.1 Sie verstehen die Wörter lýtron und antílytron als „Löse-Mittel“ nicht nur als „Löse-Geld“, als etwas, was zur Lösung hilft.
Das Wort selbst spricht nur von ‚Loslösung‘; erst der Kontext ergibt, wovon man was auf welche Weise ‚löst‘ und die Endung -τρον bezeichnet das Mittel zu dieser Lösung.
Sie gelangen zu folgenden Übersetzungsvorschlägen:
Mk 10,45par: Er kam zu dienen und zwar anstatt Vielerlei seine Seele einzusetzen als wohltuende Hilfe (‚Motivation‘, nicht ‚Entgelt‘).
1 Tim 2,6: Christus, der sich persönlich wie ein Heil-Mittel für alle einsetzte.
Zu Markus 10,45 // Matthäus 20,28
Beim Wort Jesu in Markus 10,45 fällt auf, dass nicht nur das „Lösegeld“ anders wiedergegeben wird, sondern auch die Wendung „für viele“ durch „anstatt Vielerlei“ ersetzt wurde. Mir erscheint ihre Erklärung2 künstlich und auch inhaltlich nicht notwendig oder angebracht.
Da es im Zusammenhang um das Dienen geht, hat Jesus seinen Jüngern sein Beispiel vor Augen gestellt, so wie er in seinem Leben dient. In der Zeit vor seinem Tod lag ein Hinweis auf sein Lebensbeispiel näher.
Damit beschreibt Jesus nicht seinen künftigen Tod, sondern seine gegenwärtige Tätigkeit, an der die Jünger ‚dienen‘ lernen sollen! Erst nachösterlich, wohl Jahrhunderte später, wird bei diesem Wort sein Tod assoziiert! Gesprochen ist es vorösterlich zur Beschreibung seiner irdischen Tätigkeit, in der er Tag für Tag Fesseln ‚löst‘ und Linderung schenkt! […] Die Jünger sehen ihn täglich so auf die Menschen zugehen. Also wird nicht sein Sterben als Modell für ihren Dienst hingestellt. […]
Jesus widmet sich mit ganzer Seele dem jeweiligen Menschen. Seine Tätigkeit ist Verkündigung des Reiches Gottes, sind oft mühsame Einzelgespräche, Heilungen, Hilfen zu Umkehr, zur Annahme der Botschaft und der Vergebung der Sünden! Das alles sind „Dienste“, die Jesus mit „Einsatz seiner Seele“ oder seines Innersten, wir würden sagen ‚mit ganzem Herzen‘ leistet und in denen er sich dem jeweiligen Menschen zuwendet. So ist dieser Satz ein bildhafter Ausdruck für das, wozu er „gekommen ist“. Ohne dass die Jünger den Inhalt schon in seinem ganzen Ausmaß verstehen, ist der Satz aus der Art des Verhaltens Jesu für sie in diesem Moment so verständlich […]. Dagegen ist ‚und sein Leben durch einen blutigen Tod hinzugeben als Lösegeld für viele‘ thematisch und von der Textlogik her ein Fremdkörper in diesem Abschnitt und eine Überforderung der Jünger.
Zu 1 Timotheus 2,6
In der Erklärung zu diesem Vers erwähnen die Autoren auch manche von mir bereits eingangs genannte Gedanken.
[…] Da das Partizip im Aorist steht, meint es wohl nicht (auch) die (jetzige) Tätigkeit des Erhöhten vom Himmel her, aber doch sein gesamtes Wirken auf Erden einschließlich seines Todes und vielleicht auch des Wirkens von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt und Geistsendung. […] ‚Er setzte sich persönlich ein‘ steht also nun semantisch für seinen gesamten historischen Einsatz, und zwar auch hier wieder nicht etwa speziell für seinen ‚Einsatz im Tod‘, sondern es steht für den Einsatz seiner Person als ‚Hilfe zur Loslösung‘ aller Menschen von Sünde und Tod, in personaler Begegnung. Das ist einleuchtender als dass er sich zu einem Lösegeld machte, das einmalig einem bisherigen ‚Besitzer‘ bezahlt worden wäre, ohne Bezugnahme zu den ‚Gefangenen‘! Auch die alttestamentliche Metapher von Gott als dem „Löser Israels“ ist ja nicht zu lesen, als ob Gott (wem?) einem Kaufpreis bezahle. Dass Paulus aber nicht das Grundwort wählt, sondern das Kompositum ἀντί-λυτρον (bildet), lässt fragen, welche Nuance er mit dieser Vorsilbe betonen will. […] Als Vorsilbe eines Nomens nun dient ἀντί- nicht selten als Ausdruck des Vergleichs […] Das hieße hier: ‚einem Löse-mittel gleich‘, freier ‚gleichsam als Heilmittel‘, bezogen auf den ‚Einsatz‘ in der Begegnung mit den Menschen. […]
[…] wird in der EÜ übersetzt: „(Christus Jesus), der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle“. Demnach wären die Vorstellungen von ‚Lebenshingabe am Kreuz‘ und „Lösegeld“ […] in einem Text verbunden. Christi Mittlertätigkeit bestünde dann darin, einem fremden Machthaber über die Menschen, die Gott davongelaufen sind, als „Vermittler“ ein Lösegeld gezahlt zu haben, und zwar durch seine „Hingabe“ (an den Vater?) am Kreuz; anders gäbe jener Machthaber (Satan?) sie nicht frei! Man stutzt: Was für ein Gottesbild steht hinter einem solchen Konzept? Schickt Gott einen Mittler, um mit der Gegenseite zu verhandeln? […]
Doch stellen wir diese Interpretation in Frage, sobald ὁ δοὺς ἑαυτὸν [der sich selbst gegeben Habende] heißt ‚der sich eingesetzt, engagiert‘ hat und sobald (ἀντί-)λυτρον in seinem ursprünglichen Sinn genommen wird: ‚Instrument zur Lösung‘ und zwar ‚gleichsam‘. Dann ist der Mittler in V 5b der Überbringer eines Angebotes Gottes an die verlorene Menschheit, der sich seinerseits wie ein ‚Heil-Mittel‘ verhält, wie ein ‚Instrument‘, ein ‚Mittel‘ in der Hand Gottes, um die Menschen zu bewegen, sich aus ihrer Verstrickung losbinden zu lassen […]
[…] Das letzte Wort, das man in V 6a gewöhnlich mit „Lösegeld“ übersetzt (EÜ), ist im Neuen Testament ein Hapaxlegomenon und auch sonst nirgends in der griechischen Literatur bis zur Koinē belegt. Paulus ist also bisher der erste uns bekannte Autor, der dieses Wort in die Literatur einführt. Nicht, dass er es erfunden hätte; er setzt ja voraus, dass die Leser ihn ohne Erklärung verstehen. […] Wie λύτρον ‚Mittel zur Lösung‘ heißt, so das Kompositium nun ‚einem Instrument zur Losbindung gleich‘. Die „Bindung“ aber ist die an Sünde und Tod (Gen 2,17; 1 Tim 1,15: „er kam, Sünder zu retten“), aus der sich der Mensch allein nicht lösen, aus der er aber andererseits nur mit seiner Zustimmung gelöst werden kann. Der „Einsatz seiner Person“ hat also bei Jesus als Gegenüber den je einzelnen Menschen, dem der Mittler vom Vater her sich „gleichsam als ‚HEIL-mittel“ zuwendet, um ihn unter Achtung seiner Freiheit zur Umkehr zu bewegen! Das tut ständig als Mittler der, welcher in seinem irdischen Leben durch Lösen gedient hat (Mk 10,45). […] Der „Vermittler Gottes“ handelt nicht anstelle der Menschen, sondern an ihnen als ihr Gegenüber, und zwar zur ‚Loslösung‘ und ‚Versöhnung‘!
Ich habe diese Worte etwas umfangreicher zitiert, weil sie zum Nachdenken über das Wesen der Erlösung und der Hingabe Jesu und die Antwort des Menschen darauf einladen.
Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. (Johannes 10,11)
- Norbert Baumert, Maria-Irma Seewann, Hirte der Hirten. Übersetzung und Auslegung der Briefe an Timotheus (1 und 2) und an Titus, München 2019, Exkurs 3B, S. 168-178) ↩
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S. 172-173: […] nur wundert man sich, warum er „für viele“, nicht „für alle“ sagt. Aber ἀντί heißt nicht „für“, wohl aber u. a. „anstelle von, statt“. Dann setzt er seine Seele „statt Vielem“ (dahinter steht ein neutrum pluralis) oder „anstelle von Vielerlei“ (Hilfsmitteln), was die Menschen (z. B. die Machthaber, vielleicht auch die Jünger, V. 10,42f) anwenden. Als Fragehorizont steht im Raum, wie man Menschen angemessen dient. Dann hieße das: „Der Menschensohn ist gekommen, nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen, und zwar statt Vielerlei seine Seele einzusetzen als wohltuende Hilfe.“ […]
– Die Grenzen der Bedeutungen von ἀντί sind fließend. Die Bedeutung „statt“ kann in „für“ übergehen, z. B.: Matthäus 17,27: Das gib ihnen als Steuer für mich und für dich. Der Dienst Jesu war ja „für viele“. Die Erklärung „statt Vielerlei“ ergibt für mich in diesem Zusammenhang nicht viel Sinn. Wenn wir davon ausgehen, dass Paulus in 1 Timotheus 2,6 das Wort Jesu aus Markus 10,45 vor Augen hatte und Paulus „für alle“ schrieb, spricht das dafür, dass Paulus das Wort ἀντί im Sinne von „für“ und „viele“ im Sinne von „alle“ verstanden hat. ↩