16 Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte. 17 Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder, einige aber hatten Zweifel. (Matthäus 28,16-17)
Nur Matthäus berichtet über diese Erscheinung des Auferstandenen auf einem Berg in Galiläa. Manchmal wird angenommen, dass Matthäus in diesen Versen Aspekte verschiedener Erscheinungen Jesu zu einer einzigen Erscheinung verwoben hätte. So bezögen sich die in Vers 17 genannten Zweifel auf Thomas, von dessen Zweifeln in Johannes 20,24-29 die Rede ist. Im Zusammenhang mit Thomas ging es aber um Erscheinungen Jesu in Jerusalem.
Meines Erachtens würde es besser passen, die von Matthäus berichtete Erscheinung mit der Erscheinung vor mehr als fünfhundert Brüdern gleichzusetzen, von der Paulus an die Korinther schrieb:
Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. (1 Korinther 15,6)
Matthäus schrieb zwar nur von den elf Jüngern. Diese machten sich von Jerusalem aus auf den Weg nach Galiläa. Die mehr als fünfhundert Brüder, denen Jesus zugleich erschien, waren vermutlich zum Großteil aus Galiläa und hatten daher keinen so langen Weg zu dem Berg, zu dem Jesus sie bestellt hatte.
Wenn es nur um die Elf gegangen wäre, hätte Jesus sie nicht eigens nach Galiläa schicken müssen. Nach Johannes 20 war er ihnen in Jerusalem innerhalb einer Woche zweimal erschienen.
Die Elf waren wohl auch nicht die einzigen Jünger, die von Jerusalem zu dieser Erscheinung nach Galiläa reisten. Matthäus hat sie deswegen genannt, weil sie als die Apostel, die mit ihrer Lehre und ihrem Zeugnis das Fundament der Gemeinde legen sollten, eine besondere Bedeutung hatten.
Da Jesus den Jüngern in Jerusalem zweimal erschienen war, wobei auch Thomas bei der zweiten Erscheinung seine Zweifel abgelegt und Jesus als Herrn und Gott bekannt hatte, sind die von Matthäus genannten Zweifler unter den fünfhundert Brüdern zu suchen, für die diese Erscheinung Jesu die erste und wohl auch letzte Erscheinung des Auferstandenen war.
Es spricht für die realistische Darstellung des Evangelisten, wenn er diese Zweifel erwähnt. Es ging ihm nicht darum, ein idealisierendes Bild von den Jüngern zu zeichnen. Die Zweifel waren da. Man könnte die Worte „einige aber hatten Zweifel“ in dem Sinne interpretieren, dass einige gezweifelt hatten, bevor Jesus ihnen erschien. Diese Deutung ist aber von der Grammatik her nicht so stark gestützt. Außerdem schreibt Matthäus zuerst von dem huldigenden oder anbetenden Niederfallen der Jünger und erst danach, dass einige zweifelten.
Das für „zweifeln“ verwendete Wort διστάζω / distázō kommt im Neuen Testament nur zweimal vor. Die zweite Stelle ist Matthäus 14,31:
Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
Jesus sagte diese Worte zu Petrus, der Jesus vor sich am Wasser gehen sah und im Vertrauen auf sein Wort begonnen hatte, ihm entgegenzuschreiten, danach aber wegen der widrigen Umstände Angst hatte und zu sinken begann. Diese Zweifel hatte Petrus, obwohl er Jesus vor sich auf dem Wasser sah.
Vielleicht war es für die zweifelnden Jünger aufs Erste so völlig unglaublich, was sie sahen, dass sie nicht einmal ihren eigenen Augen trauten. Doch die Begegnung mit Jesus und seine Worte haben dann ihre Zweifel ausgeräumt.
Für das Niederfallen der Jünger vor Jesus steht im Griechischen das Wort προσκυνέω / proskynéō. Da geht es um Huldigung oder Anbetung. Wenn die heidnischen Weisen in Matthäus 2,11 vor Jesus niederfielen, ging es um die Huldigung des Messiaskönigs, nicht aber um Anbetung, die nur Gott gebührt.
Unter den Jüngern Jesu hatte dieses Wort jedoch eine stärkere Bedeutung. Jesus hatte zum Versucher gesagt:
Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen. (Matthäus 4,10)
Hier steht für „anbeten“ proskynéō.
Dieses anbetende Niederfallen gebührt nur Gott. Wenn die Jünger vor dem auferstandenen Herrn Jesus niederfallen, dann bekennen sie dadurch, dass Jesus zu Recht beansprucht hat, Gott zu sein. Er hat diesen Anspruch durch seine Auferstehung bestätigt. Durch ihr Niederfallen drückten diese Jünger dasselbe aus, was zuvor schon der zuerst zweifelnde Thomas mit Worten gesagt hatte.
Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! (Johannes 20,28)