Mohammeds Berufung im Licht von Daniel 10

In einem früheren Beitrag habe dich die Berufungen Jeremias und Mohammeds miteinander verglichen. In mancher Hinsicht ist der von Buchārī überlieferte Hadith über die Berufung Mohammeds der in Daniel 10 erzählten Vision ähnlicher als der Berufung Jeremias. Darum lohnt sich auch ein Vergleich dieser Berufungserzählung mit der Vision, die Daniel hatte.

In Daniel 10 wird nicht ausdrücklich gesagt, dass es hier um die Berufung Daniels geht. Claus Schedl1 hat vorgeschlagen, dass Daniel 10-12 die Berufungsvision des Propheten Daniels erzählt, die allerdings in der Makkabäerzeit angesichts der damaligen Ereignisse, was ihren Inhalt betrifft, neu interpretiert und überarbeitet wurde. In diesem Vergleich soll es aber weniger um den Inhalt, sondern um die Umstände der Vision gehen. Es ist daher auch weniger bedeutsam, ob hier die Berufung oder eine andere Vision erzählt wird.

Zuerst der Bericht aus Daniel:

1 Im dritten Jahr des Königs Kyrus von Persien empfing Daniel, der auch Beltschazzar heißt, eine Offenbarung. Das Wort ist zuverlässig und kündigt große Not an. Er suchte das Wort zu verstehen und das Verständnis wurde ihm in einer Vision gegeben. 2 In jenen Tagen hielt ich, Daniel, drei Wochen lang Trauer. 3 Nahrung, die mir sonst schmeckte, aß ich nicht; Fleisch und Wein kamen nicht in meinen Mund; auch salbte ich mich nicht, bis drei volle Wochen vorbei waren. 4 Am vierundzwanzigsten Tag des ersten Monats stand ich am Ufer des großen Flusses, des Tigris. 5 Ich blickte auf und schaute. Und siehe, da war ein Mann, der in Leinen gekleidet war und seine Hüfte war mit einem Gürtel aus feinstem Gold gegürtet. 6 Sein Körper glich einem Chrysolith, sein Gesicht leuchtete wie ein Blitz und die Augen waren wie brennende Fackeln. Seine Arme und Beine glänzten wie polierte Bronze. Seine Worte waren wie das Getöse einer großen Menschenmenge. 7 Nur ich, Daniel, sah diese Erscheinung; die Männer, die bei mir waren, sahen die Erscheinung nicht; doch ein großer Schrecken befiel sie, sodass sie wegliefen und sich versteckten. 8 So blieb ich allein zurück und sah diese gewaltige Erscheinung. Meine Kräfte verließen mich; ich wurde totenbleich und konnte mich nicht mehr aufrecht halten. 9 Ich hörte den Schall seiner Worte; beim Schall seiner Worte fiel ich betäubt zu Boden und blieb, mit dem Gesicht am Boden, liegen. 10 Doch eine Hand fasste mich an und half mir auf Knie und Hände. 11 Dann sagte er zu mir: Daniel, du geliebter Mann, achte auf die Worte, die ich dir zu sagen habe! Stell dich aufrecht hin; denn ich bin jetzt zu dir gesandt. Als er so mit mir redete, erhob ich mich zitternd. 12 Dann sagte er zu mir: Fürchte dich nicht, Daniel! Schon vom ersten Tag an, als du dich um Verständnis bemühtest und dich deswegen vor deinem Gott beugtest, wurden deine Worte gehört und wegen deiner Worte bin ich gekommen. […] 15 Während er das zu mir sagte, blickte ich zu Boden und blieb stumm. 16 Da berührte eine Gestalt, die aussah wie ein Mensch, meine Lippen. Nun konnte ich den Mund wieder öffnen und sprechen. Ich sagte zu dem, der vor mir stand: Mein Herr, als ich die Vision sah, wand ich mich in Schmerzen und verlor alle Kraft. 17 Wie kann ich, der Knecht meines Herrn, mit meinem Herrn reden? Mir fehlt seitdem jede Kraft, selbst der Atem stockt mir. 18 Da berührte mich die Gestalt, die wie ein Mensch aussah, von Neuem, stärkte mich 19 und sagte: Fürchte dich nicht, du geliebter Mann! Friede sei mit dir. Sei stark, ja, sei stark! Als er so mit mir redete, fühlte ich mich gestärkt und sagte: Nun rede, mein Herr, denn du hast mich gestärkt! (Daniel 10,1-12.15-19)

Hier der Text über die Berufung Mohammeds:

ʿAʾischa, Mutter der Gläubigen, Allahs Wohlgefallen auf ihr, überlieferte:
„Das erste, mit dem der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, die Offenbarung begann, war das wahrhaftige Traumgesicht während des Schlafs, er hatte keinen Traum gesehen, der sich nicht wie das Morgenlicht bewahrheitet hat. Danach wurde ihm (von Allah) die Einsamkeit lieb gemacht. Dazu wählte er die Berghöhle von Hiraʾ, in die er sich gewöhnlich für mehrere Nächte zurückzog und Allahs Nähe suchte – eine Art Gottesverehrung. Anschließend begab er sich zu seiner Familie und kümmerte sich um die Versorgung der nächsten Runde, er kehrte dann abermals zu Chadidscha zurück, um sich für ähnliche Versorgung vorzubereiten. (Und dies geschah so weiter,) bis die Wahrheit zu ihm kam, während er sich in der Berghöhle von Hiraʾ aufhielt. Dort kam der Engel zu ihm und sagte: „Lies!“ Darauf sagte er: „Ich kann nicht lesen.“ (Der Prophet berichtete davon, indem) er sagte: „Da ergriff er mich und drückte mich bis zu meiner Erschöpfung, ließ mich dann los und sagte erneut: „Lies!“ Ich sagte (wieder): „Ich kann nicht lesen.“ Da ergriff er mich und drückte mich zum zweiten Male bis zur Erschöpfung, ließ mich dann los und sagte: „Lies!“ Ich sagte: „Ich kann nicht lesen“, dann ergriff er mich und drückte mich zum dritten Mal, alsdann ließ er mich los und sagte: „Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus einem Anhängsel. Lies, und dein Herr ist der Edelste, …“ [Qurʾān 96:1-3]
Mit diesen Ayah (Versen) kehrte der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, mit einem bebenden Herzen zurück. Dann trat er bei (seiner Frau) Chadidscha Bint Chuwailid, Allahs Wohlgefallen auf ihr, ein und sagte: „Hüllt mich ein, hüllt mich ein!“ Sie hüllten ihn ein, bis die Furcht von ihm abließ. Hier dann erzählte er Chadidscha und berichtete ihr von dem Ereignis: „Ich bangte um mein Leben.“ Darauf sagte Chadidscha: „Niemals wirst du bei Allah eine Schande erleben denn du bist wahrlich derjenige, der die Verwandtschaftsbande pflegt, dem Schwachen hilft, dem Mittellosen gibt, den Gast freundlich aufnimmt und dem Notleidenden unter die Arme greift.“ (aus Sahīh al-Buchārī, Hadith Nr.3)

Sowohl Daniel als auch Mohammed hatten sich in gewisser Weise vorbereitet. Daniel hielt drei Wochen lang Trauer, er enthielt sich von wohlschmeckender Nahrung, von Fleisch und Wein. Mohammed hatte sich in die Berghöhle von Hiraʾ zu einer „Art Gottesverehrung“ zurückgezogen. Daniel wurde von der Größe der Erscheinung überwältigt, seine Kräfte verließen ihn und er fiel betäubt zu Boden. Mohammed wurde vom Engel bis zu seiner Erschöpfung gedrückt.

Beide waren erschöpft und erschüttert. Doch die Ursache war unterschiedlich. Daniel war von der Erscheinung des unbekannten himmlischen Wesens erschüttert. Er war vom Schall seiner Worte betäubt, auch wenn er die Worte vielleicht nur innerlich vernommen hat. Mohammed wurde vom Engel gedrückt und in Schrecken versetzt. Er war auch nach der Erscheinung voller Furcht und bedurfte der Aufmunterung durch seine Frau.

Daniel wurde von dem himmlischen Wesen aufgerichtet. Er hörte zweimal das Wort „Fürchte dich nicht!“ Diesen Zuspruch vernahmen auch andere Menschen, die eine Begegnung mit Gott oder einem Engel hatten (z. B.: Genesis 15,1; Richter 6,23; Matthäus 17,7; 28,5; Lukas 1,13.30; 2,10; Offenbarung 1,17).

Zweimal, in den Versen 11 und 19, wurde Daniel als „Geliebter Mann“ angesprochen. Das hebräische אִישׁ־חֲמֻדֹ֛ות / ʾîš chamudôt heißt wörtlich „Mann der Kostbarkeiten“. Bei Buber heißt er „Mann des Wohlgefallens“. (Die Wurzel chāmad, von der dieses Wort abgeleitet ist, steckt übrigens auch im Namen Mohammed.) Daniel wird gesagt, dass er in Gottes Augen kostbar und wertvoll ist. Gott tut alles, damit sein Diener und Prophet nicht vor der Größe der himmlischen Erscheinung vergeht, sondern aufgerichtet wird, um seinen Dienst erfüllen zu können.

Bei der Erscheinung, die Mohammed zuteilwurde, erlebte er nur das aggressive Verhalten des Engels, keinen Zuspruch, keine Ermunterung. Er erfuhr nur Angst und Schrecken. Trost fand er erst bei seiner Frau.

Zeigt dieser Unterschied nicht, dass die Erscheinungen, die die wahren Diener Gottes hatten, und die Erscheinung, die Mohammed widerfuhr, nicht aus derselben Quelle stammen?

Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkünden: Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm.
(1 Johannes 1,5)


  1. Claus Schedl, Geschichte des Alten Testamens, V. Band. Die Fülle der Zeiten, Innsbruck 1964, S.54-64. 

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