Empfiehlt Paulus Sklaverei oder Freiheit?

Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon!
(1 Korinther 7,21)

Dieser Vers aus dem 1. Korintherbrief wird unterschiedlich übersetzt und verstanden. Die oben zitierte Einheitsübersetzung (2016) ist lässt sich als ein Aufruf verstehen, die Möglichkeit zur Freilassung zu nützen.

Viele neuere Übersetzungen oder Übertragungen verstehen den Vers auch so:

Bist du als Sklave berufen worden, so lass es dich nicht kümmern; wenn du aber auch frei werden kannst, mach umso lieber Gebrauch davon. (Neue Elberfelder)
Bist du als Knecht berufen, so sorge dich nicht; doch kannst du frei werden, so nutze es umso lieber. (Luther 2017)
Warst du Sklave oder Sklavin, als Gott dich rief, so mach dir nichts daraus! Wenn dir allerdings die Freilassung angeboten wird, dann nutze ruhig die Gelegenheit. (Gute Nachricht Bibel 2018)
Bist du als Sklave ein Christ geworden? Mach dir deswegen keine Sorgen! Kannst du aber frei werden, dann nutze die Gelegenheit. (Hoffnung für alle)
Bist du als Sklave berufen, dann mach dir nichts daraus. Wenn du aber frei werden kannst, nimm es umso lieber wahr. (Berger / Nord)

Bei einigen dieser Versionen wird in einer Fußnote darauf hingewiesen, dass der Text auch anders übersetzt werden kann, nämlich dass ein Sklave an der Sklaverei festhalten und auf das Freiwerden verzichten soll.

Dieses Verständnis bieten z. B. diese Übersetzungen:

Bist du als Sklave berufen worden: laß dich’s nicht anfechten, nein, selbst wenn du frei werden kannst, so bleibe nur um so lieber dabei. (Menge)
Bist du als Sklave berufen worden? Laß dich’s nicht kümmern. Aber auch, wenn du frei werden kannst, bleibe erst recht dabei. (Jerusalemer Bibel 1968)
Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter. (Einheitsübersetzung 1980)

Das Problem ist, dass der griechische Text in diesem Vers nicht eindeutig ist. Die Schlussworte μᾶλλον χρῆσαι / mallon chrēsai („gebrauche es lieber“) können sowohl auf das Sklave-Sein als auch die Freilassung bezogen werden.

Johannes Chrysostomus (344-407) kannte beide Erklärungen und hat sich in seinen Homilien zum 1. Korintherbrief 19,4 festgelegt:

Gleichwie die Beschneidung Nichts nützt und die Vorhaut Nichts schadet, so verhält es sich auch mit der Freiheit und der Sklaverei. Um Dieses noch weit deutlicher zu zeigen, sagt er: „Kannst du jedoch frei werden, so mache dir Das um so mehr zu Nutzen,“ d. h. bleibe um so lieber ein Sklave! Warum will er denn aber, daß Derjenige, der frei werden kann, im Sklavenstand bleibe? Er will zeigen, daß der Sklavenstand Nichts schade, sondern sogar nütze. Wohl weiß ich, daß Einige den Ausdruck: „Mache dir Das um so mehr zu Nutzen!“ von der Freiheit verstehen und sagen: Wenn du frei werden kannst, so mache dich frei! Diese Bedeutung des Wortes wäre aber der gewöhnlichen Redeweise Pauli gänzlich entgegen: denn er würde den Sklaven nicht erst trösten und zeigen, daß der Stand ihm nicht schade, und darauf ihn ermuntern, seine Freiheit zu suchen. Denn leicht könnte Jemand erwidern: Wie aber, wenn ich nicht kann, soll ich dann Unrecht und Schaden leiden? Er sagt also nicht Das, sondern er will, wie ich oben bemerkte, nur zeigen, daß die gewonnene Freiheit (in Bezug auf das Christenthum) weiter keinen Nutzen bringe, und will also sagen: Wenn es auch in deiner Macht stände, die Freiheit zu erlangen, so bleibe doch lieber Sklave!

Chrysostomus, dessen Muttersprache dem Griechisch, das Paulus sprach, noch sehr ähnlich war, hat nicht von der Sprache her argumentiert, sondern von seinem Verständnis des Zusammenhanges her. Er weiß aber, dass dieser Vers auch anders verstanden wurde.

Bevor wir uns dem Zusammenhang dieses Verses zuwenden, einige Gedanken zur antiken Sklaverei. Der Status eines Sklaven konnte sehr unterschiedlich sein. Es war vor allem ein Rechtsstatus. Die tatsächliche Lebenssituation konnte sehr unterschiedlich sein. Das konnte von einem von harter Arbeit und Unterdrückung belasteten Feldarbeiter bis zu einem Hauslehrer oder einem für Verwaltungsarbeiten beschäftigten Sklaven im kaiserlichen Dienst reichen. Ein Sklave konnte bei einem guten Herrn auch viel Freiheit in seiner persönlichen Lebensführung haben. Manche Sklaven haben sogar ihren Status dem eines Freien vorgezogen, da ihr Herr für ihren Lebensunterhalt sorgte. Anderen aber ging es wieder sehr schlecht. Die Sklaverei war eine Grundsäule des antiken Wirtschaftswesens. Bei einer offenen Forderung nach Abschaffung der Sklaverei wären die Christen als offene Staatsfeinde nicht geduldet worden. Innerhalb der Gemeinde wurde aber darauf geachtet, dass es keinen Unterschied zwischen Freien und Sklaven gab.

Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)

In Christus waren alle Brüder und Schwestern. So wurde im Gemeindeleben ein Gegenmodell zu den Verhältnissen in der Gesellschaft praktiziert, ohne dass das auf der Sklaverei aufbauende Wirtschaftssystem direkt angegriffen wurde.

Wir sollten auch bedenken, dass vieles, was heute von Maschinen erledigt wird, in der Antike durch Sklaven gemacht wurde. Es ist nicht so, dass die Menschen heute so viel besser wären als damals. Der Fortschritt der Technik hat die Sklaverei in vielen Punkten unnötig gemacht.

Doch wenden wir uns dem Zusammenhang von 1 Korinther 7,21 zu.

In 1 Korinther 7 geht es in erster Linie um Fragen, die mit der Ehe in Zusammenhang stehen. Das ist auch der Hintergrund der Verse 17-24:

17 Im Übrigen soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gottes Ruf ihn getroffen hat. Das ist meine Weisung für alle Gemeinden. 18 Wenn einer als Beschnittener berufen wurde, soll er beschnitten bleiben. Wenn einer als Unbeschnittener berufen wurde, soll er sich nicht beschneiden lassen. 19 Es kommt nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, die Gebote Gottes zu halten. 20 Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. 21 Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon! 22 Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi. 23 Um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen! 24 Brüder, jeder soll vor Gott in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat.

Paulus schreibt diese Verse vor dem Hintergrund der Frage, ob man als Christ in einer Ehe leben soll oder nicht. Er entfaltet das in den Folgeversen ab Vers 25. Für ihn war der Rat, dass man in dem Stand bleiben soll, in dem man Christ wurde. So schreibt er in Vers 27:

Bist du an eine Frau gebunden, suche dich nicht zu lösen; bist du ohne Frau, dann suche keine!

Wer bei seiner Bekehrung verheiratet war, soll in diesem Stand bleiben, wer unverheiratet war, soll daran auch nichts ändern. Der Fokus des Christen liegt nicht auf seinem Familienstand, sondern auf der Nachfolge Christi.

Die Verse 17-24 dienten zur Vorbereitung dieses Themas. In den Versen 17, 20 und 24 wiederholt Paulus den Grundsatz, in dem Stand zu bleiben, in dem jemand von Gott gerufen wurde.

Dazu bringt er zwei Beispiele: die Beschneidung und die Sklaverei.

Wer als Beschnittener, d. h. als Jude Christ wurde, soll daran nichts ändern. Er soll Jesus als Jude nachfolgen. Wer als Nichtjude Christ wurde, soll nicht denken, dass er sich beschneiden lassen soll, um dadurch auch die alttestamentlichen Reinheitsgebote zu erfüllen. Über diese Problematik hat Paulus ausführlich im Galaterbrief geschrieben.

Wenn man diesen Grundsatz, dass jeder in seinem Stand bleiben soll, auf das zweite Beispiel, die Sklaverei, anwendet, scheint die Schlussfolgerung eindeutig zu sein: Der Sklave soll Sklave bleiben, auch wenn er die Möglichkeit hat, frei zu werden. Zum Trost der Sklaven habe Paulus dann noch die Verse 22-23 angefügt, um ihnen zu zeigen, dass sie vor Gott durch Christus schon Freigelassene sind.

Doch ist die Sache wirklich so einfach? Warum hat sich Paulus im zweiten Teil des Verses so unklar ausgedrückt, dass man es in beide Richtungen verstehen kann? In Bezug auf die Beschneidung hat er sehr eindeutig geschrieben. Diese Eindeutigkeit fehlt in seiner Stellungnahme in Bezug auf die Sklaven. Könnte es nicht sein, dass er, um Schwierigkeiten mit staatlichen Stellen zu vermeiden, die möglicherweise eine Abschrift seines Briefes bekommen könnten, bewusst eine Formulierung, die nach beiden Seiten offen ist, gewählt hat?

Welchen Vorteil hätte ein Christ gehabt, wenn er weiterhin Sklave geblieben wäre? Möglicherweise wäre seine materielle Versorgung gesichert gewesen, während er als freier Mensch sich selbst darum kümmern musste. Andererseits war er als Sklave immer den Einschränkungen unterworfen, die ihm sein Herr auferlegen konnte. Seine Teilnahme am Gemeindeleben, das sich damals nicht auf eine Stunde am Sonntagvormittag beschränkt hat, konnte sehr eingeschränkt sein. Man kann nicht, wie Chrysostomus es ausdrückte, sagen, dass die gewonnene Freiheit weiter keinen Nutzen bringe.

Da die Christen miteinander teilten, war auch die materielle Versorgung gewährleistet, wenngleich von jedem erwartet wurde, seinen Beitrag, den er leisten konnte, zu leisten. Ein freier Bruder war immer flexibler und konnte in der Gemeinde und in der Mission seinem Herrn besser dienen als im Sklavenstatus.

Darum denke ich, dass Paulus in Bezug auf die Sklaven eine Ausnahme von der Regel, in dem Stand zu bleiben, in dem man berufen war, gesehen hat, das aber nicht so klar ausdrücken konnte, wie wir das in unserer heutigen Situation tun können.

Auch Vers 23b stützt dieses Verständnis:

Macht euch nicht zu Sklaven von Menschen!

Es geht hier um die Gesinnung eines Christen. Auch ein Freier kann sich zum Sklaven eines Menschen machen, wenn er nicht auf Jesus schaut, sondern auf einen Menschen fixiert ist, dessen Wünsche ihm wichtiger sind als der Wille Gottes. Weil wir um einen teuren Preis erkauft worden sind, zählt für einen Christen der Wille seines Herrn, der ihn erkauft hat, und nicht der Wille eines Menschen. Das gilt für Sklaven und Freie. Natürlich ist der Sklave verpflichtet, seinem Besitzer zu gehorchen. Doch wenn dieser etwas verlangt, was den Willen Gottes zuwiderläuft, hat der Wille Gottes Priorität. Auch heute hat ein Bediensteter den Willen seines Vorgesetzten zu erfüllen, solange dieser nichts verlangt, was Gottes Willen widerspricht, wie etwa Lüge oder Betrug. Dieser in erster Linie auf die Gesinnung hin formulierte Grundsatz, sich nicht zu Sklaven von Menschen zu machen, unterstützt die Deutung, dass ein Sklave die Möglichkeit, frei zu werden, ergreifen soll.

Die Verse 22 und 23 weisen darauf hin, dass alle Christen, ob sie dem rechtlichen Status nach Freie oder Sklaven sein mögen, sowohl Freie als auch Sklaven sind. Befreit durch die Erlösung Jesu Christi ist ein Christ zugleich Sklave Christi. Aber gerade als Sklave Christi hat er die innere Freiheit, sich der Sklaverei der Sünde zu entziehen. Er ist nicht von Menschen abhängig, sondern von Gott, der die wahre Freiheit, die Freiheit von der Sünde schenkt.

34 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde. […] 36 Wenn euch also der Sohn befreit, dann seid ihr wirklich frei. (Johannes 8,34.36)

Obwohl ich der grundsätzlichen Deutung von Chrysostomus nicht zustimme, formuliert er zu Vers 23 am Beispiel Josefs Gedanken zum Thema Sklaverei und Freiheit, die helfen können zu verstehen, was wirkliche Freiheit ist.

23. Ihr seid um hohen Preis erkauft; werdet nicht Sklaven der Menschen!

Diese Rede gilt nicht nur den Sklaven, sondern auch den Freien; denn es kann Einer ein Sklave und doch kein Sklave, ein Freier und doch ein Sklave sein. Und wie sollte Einer, der Sklave ist, kein Sklave sein? Wenn er Alles um Gottes willen thut, wenn er es nicht aus Heuchelei, nicht aus Augendienerei gegen die Menschen thut: das heißt den Menschen dienen und doch frei sein. Und wieder, wie wird denn Einer, der frei ist, ein Sklave? Wenn er den Menschen dient im Schlechten, sei es durch Sucht nach Wohlleben, nach Geld oder Herrschaft: ein Solcher ist, obwohl frei, mehr Sklave als Alle. Siehe Beides an einem Beispiele! Joseph war Sklave, aber nicht ein Sklave der Menschen; darum war er auch in der Sklaverei freier als alle Freien; er gab deßhalb der Gebieterin in Dem, was sie von ihm wünschte, nicht nach. Diese hingegen war eine Freie und doch mehr Sklavin als irgend eine Andere, indem sie ihrem Sklaven schmeichelte und ihn bat; allein sie konnte den Freien nicht überreden, zu thun, was er nicht wollte. Das war also nicht Knechtschaft, sondern die höchste Freiheit; denn was hinderte ihn die Knechtschaft an der Ausübung der Tugend? Mögen es hören Sklaven und Freie! Wer war hier Sklave, Der, den sie hat, oder sie, die ihn hat? sie, die ihm schmeichelte, oder er, der die Schmeichlerin abwies?

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