In welche Richtung beten? – Gedanken zur Qibla

Allah gehört der Osten und der Westen; wohin ihr euch auch immer wendet, dort ist Allahs Angesicht. Allah ist Allumfassend und Allwissend. (Sure 2,115)

Nicht nur im Islam, auch in den anderen monotheistischen Religionen gibt es Traditionen, das Gebet in eine bestimmte Richtung zu sprechen.

Im Judentum ist es Jerusalem, genauer gesagt die Stätte, an der der Tempel stand. So heißt es schon in der Rede Salomos bei der Einweihung des Tempels:

48 Mit ganzem Herzen und ganzer Seele werden sie im Land ihrer Feinde, von denen sie als Gefangene weggeführt wurden, zu dir umkehren und zu dir beten, zum Land hingewendet, das du ihren Vätern gegeben hast, zur Stadt hin, die du erwählt hast, und zum Haus hin, das ich deinem Namen gebaut habe. 49 Höre dann im Himmel, dem Ort, wo du wohnst, ihr Beten und Flehen! Verschaff ihnen Recht […] (1 Könige 8,48-49)

Über den Propheten Daniel heißt es:

Als Daniel erfuhr, dass das Schreiben unterzeichnet war, ging er in sein Haus. In seinem Obergemach waren die Fenster nach Jerusalem hin offen. Dort kniete er dreimal am Tag nieder und richtete sein Gebet und seinen Lobpreis an seinen Gott, ganz so, wie er es gewohnt war. (Daniel 6,11)

Diese Tradition wird bis heute beachtet, besonders bei der Ausrichtung von Synagogen, scheint mir aber nicht dieselbe Bedeutung wie die Gebetsrichtung im Islam zu haben.

Das Christentum kannte von Anfang an keine Gebetsrichtung. Sie ist im Neuen Testament kein Thema. Jesus sagte im Gespräch mit einer Samaritanerin, dass es keinen besonderen Ort der Anbetung mehr geben wird.

23 Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. 24 Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. (Johannes 4,23-24)

In späterer Zeit, als die Kirche mehr und mehr von der Lehre Jesu abwich und begann, eigene „Gotteshäuser“ zu errichten, wurden diese häufig Richtung Osten ausgerichtet, weil viele dachten, dass Jesus bei seiner Wiederkunft von Osten kommen werde. Doch wurde diese Regel nicht konsequent eingehalten. Eine Verpflichtung, beim Gebet in eine besondere Richtung zu schauen, gibt es nicht.

Im Islam hat Mohammed der Überlieferung zufolge, als er noch in Mekka war, in Richtung der Kaaba gebetet, nach der Auswanderung nach Medina mit seinen ersten Anhängern zuerst Richtung Jerusalem, dann aber im zweiten Jahr nach der Auswanderung die Gebetsrichtung (= Qibla) wieder Richtung Mekka geändert.1 Mit der Frage der Gebetsrichtung befasst sich ein Abschnitt aus Sure 2:

142 Die Toren unter den Menschen werden sagen: „Was hat sie von der Gebetsrichtung, die sie (bisher) einhielten, abgebracht?“ Sag: Allah gehört der Osten und der Westen. Er leitet, wen Er will, auf einen geraden Weg. 143 Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der Gesandte über euch Zeuge sei. Wir hatten die Gebetsrichtung, die du einhieltest, nur bestimmt, um zu wissen, wer dem Gesandten folgt und wer sich auf den Fersen umkehrt. Und es ist wahrlich schwer außer für diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. Aber Allah läßt nicht zu, daß euer Glaube verloren geht. Allah ist zu den Menschen wahrlich Gnädig, Barmherzig. 144 Wir sehen ja dein Gesicht sich (suchend) zum Himmel wenden. Nun wollen Wir dir ganz gewiß eine Gebetsrichtung zuweisen, mit der du zufrieden bist. So wende dein Gesicht in Richtung der geschützten Gebetsstätte! Und wo immer ihr seid, wendet eure Gesichter in ihrer Richtung! Diejenigen, denen die Schrift gegeben wurde, wissen sehr wohl, daß dies die Wahrheit von ihrem Herrn ist. Und Allah ist nicht unachtsam dessen, was sie tun. 145 Selbst wenn du zu denjenigen, denen die Schrift gegeben wurde, mit jeglichen Zeichen kämest, würden sie doch nicht deiner Gebetsrichtung folgen; noch folgst du ihrer Gebetsrichtung. Und auch untereinander folgen sie nicht der Gebetsrichtung der anderen. Würdest du aber ihren Neigungen folgen, nach all dem, was dir an Wissen zugekommen ist, dann gehörtest du wahrlich zu den Ungerechten. […] 149 Und woher du immer heraustrittst, da wende dein Gesicht in Richtung der geschützten Gebetsstätte. Es ist wirklich die Wahrheit von deinem Herrn. Und Allah ist nicht unachtsam dessen, was ihr tut. 150 Und woher du immer heraustrittst, da wende dein Gesicht in Richtung der geschützten Gebetsstätte. Und wo immer ihr seid, da wendet eure Gesichter in ihrer Richtung, damit die Menschen kein Beweismittel gegen euch haben, außer denjenigen von ihnen, die Unrecht tun. – So fürchtet nicht sie, sondern fürchtet Mich! – Und damit Ich Meine Gunst an euch vollende, auf daß ihr rechtgeleitet werden möget. (Sure 2,142-145.149-150)

Der Überlieferung zufolge soll dieser Text aus der Zeit stammen, in der die Qibla Richtung Mekka geändert wurde. Es gab damals offensichtlich Menschen, die sich über diese Änderung gewundert haben oder diese hinterfragt haben (Vers 142). Die Antwort, dass Allah der Osten und der Westen gehört, sollte eigentlich zu dem Gedanken führen, dass man überhaupt keine besondere Richtung für das Gebet benötigt. Nach Vers 143 hatte die (frühere?) Gebetsrichtung nur den Sinn zu sehen, wer Mohammed folgt und wer nicht, war also eine Gehorsamsprüfung ohne besonderen Inhalt. Nun aber gibt es eine neue Gebetsrichtung, „mit der du zufrieden bist“. Dient die Gebetsrichtung Gott oder der „Zufriedenheit“ Mohammeds?

Besonders die Erkenntnis, die richtigerweise in der eingangs zitierten Stelle 2,115 ausgedrückt wird, dass das Angesicht Gottes2 überall ist, wohin man sich wendet, sollte doch zur Schlussfolgerung führen, dass man nicht darauf achten soll, in welche Richtung man betet, sondern dass wir uns Gott mit einem offenen Herzen nahen sollen. Ob wir nach Osten, nach Westen, nach Süden, nach Norden, nach Jerusalem, Rom oder Mekka schauen, hat für den Wert unseres Gebets keinerlei Bedeutung.

Wenn unser Herz auf uns selbst, unsere Bedürfnisse und Wünsche konzentriert ist, verschließen wir es vor Gott. Wenn wir uns für Gott und seinen Willen öffnen, hört er uns unabhängig davon, in welche Richtung wir blicken.

Nahe ist der HERR den zerbrochenen Herzen und dem zerschlagenen Geist bringt er Hilfe. (Psalm 34,19)

18 Nahe ist der HERR allen, die ihn rufen, allen, die ihn aufrichtig rufen. 19 Denen, die ihn fürchten, erweist er Wohlgefallen, ihr Schreien hört er und rettet sie. (Psalm 145,18-19)


  1. Dan Gibson, der die Gebetsrichtung vieler früher Moscheen geprüft hat, ist zu dem Ergebnis gelangt, dass diese nicht auf Mekka, sondern auf Petra (im heutigen Jordanien, südöstlich des Toten Meers) ausgerichtet waren. Nach seiner Theorie wäre das Zentrum des Islams ursprünglich nicht Mekka, sondern Petra gewesen. Mehr dazu hier
  2. unter der Annahme, dass mit Allah der wahre Gott gemeint ist. 

Kommentare sind geschlossen.

Bloggen auf WordPress.com.

Nach oben ↑