[…] deshalb bin ich, soviel an mir liegt, bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkünden. (Römer 1,15)
Bevor Paulus auf seine letzte Reise nach Jerusalem aufbrach, schrieb er aus Korinth an die Gemeinde in Rom, wohin er sich nach dem Besuch Jerusalems auf der Durchreise begeben wollte, bevor er nach Spanien weiterreiste (Römer 15,24). Der Römerbrief war also eine Art Vorbereitungsschreiben für diesen geplanten Besuch.
Im 1. Kapitel dieses Briefes schrieb Paulus auch von der Absicht, „euch in Rom das Evangelium zu verkünden“. Wie sollen wir das verstehen?
Das Wort εὐαγγελίζω / euangelízō – „evangelisieren, das Evangelium, die Gute Botschaft verkündigen“ – steht für die Verkündigung an Außenstehende, die das Christentum erst kennenlernen sollen, nicht aber für die Belehrung der Gemeinde. Zu einer christlichen Gemeinde im Sinne des Neuen Testaments gehören nur Menschen, die das Evangelium angenommen haben und sich auf den Weg der Nachfolge Jesu begeben haben. Ein Christ gibt das Evangelium an andere weiter. In der heutigen entstellten Form des Christentums ist das leider nicht selbstverständlich. Deswegen gibt es z. B. im protestantischen Bereich den Begriff der „inneren Mission“.
Doch zur Zeit von Paulus war die Situation eine andere. Er kann nicht gemeint haben, in der Gemeinde von Rom die Menschen zur Nachfolge Jesu und zum Glauben zu bewegen.
Das zeigen auch die Verse 11 und 12 desselben Kapitels:
11 Denn ich sehne mich danach, euch zu sehen; ich möchte euch ein wenig mit geistlicher Gnadengabe beschenken, damit ihr gestärkt werdet, 12 oder besser: damit wir, wenn ich bei euch bin, miteinander Zuspruch empfangen durch den gemeinsamen Glauben, euren und meinen.
Paulus wollte seine Geschwister in Rom beschenken und bestärken. Als Apostel hatte er ihnen sicher viel zu geben. Doch er betont auch das Miteinander des gemeinsamen Glaubens. Auch er konnte von der römischen Gemeinde Zuspruch und Stärkung erwarten. Es ging nicht um ein „Konsumentenchristentum“, in dem einer einen Vortrag hält und alle anderen zuhören, vielleicht manchmal „Amen“ sagen oder Lieder mitsingen. Die Gemeindeversammlungen waren ein gegenseitiges Geben und Empfangen (vergleiche 1 Korinther 14,26).
Ein Erklärungsvorschlag ist, dass Paulus die Gemeinde näher mit seinen Gedanken über das Evangelium bekannt machen wollte, wie er das auch im Römerbrief tat. Doch hätte Paulus dafür das Wort „evangelisieren“ verwendet?
Betrachten wir den Zusammenhang von Vers 15:
13 Ihr sollt wissen, Brüder, dass ich mir schon oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen, aber bis heute daran gehindert wurde; denn wie bei den anderen Heiden soll meine Arbeit auch bei euch etwas Frucht bringen. 14 Griechen und Nichtgriechen, Gebildeten und Ungebildeten bin ich verpflichtet; 15 deshalb bin ich, soviel an mir liegt, bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkünden. 16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen. 17 Denn in ihm wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben. (Römer 1,13-17)
Wenn Paulus schreibt, dass seine Arbeit „wie bei den anderen Heiden“ auch bei den Römern Frucht bringen soll, weist das auf die Mission hin, die er im Osten des Römischen Reiches in vor allem von Nichtjuden besiedelten Gegenden betrieben hat, obwohl er auch dort immer zuerst zu den Juden gegangen ist, was dem Grundsatz von Vers 16b entspricht. Paulus sah sich in Vers 14 den Griechen und Nichtgriechen (wörtlich: Barbaren) unabhängig von ihrem Bildungsgrad verpflichtet. Er wollte alle zu Jesus führen. Auch in den Versen 16-17 geht es um die Evangeliumsverkündigung an Nichtchristen, Sie sollen im Evangelium Gottes Gerechtigkeit kennenlernen, das Leben, das aus dem Glauben kommt.
Leider wird in den meisten Übersetzungen Römer 1,15b nicht ganz genau übersetzt.
[…] καὶ ὑμῖν τοῖς ἐν Ῥώμῃ εὐαγγελίσασθαι.
[…] auch euch, denen in Rom, das Evangelium zu verkünden.
Meines Erachtens lässt sich dieser Vers auch so verstehen, dass Paulus das „euch“ auf alle, die in Rom lebten, ausweitet. Er möchte den Menschen in Rom das Evangelium verkünden, so wie er es anderswo auch getan hat.
Etwa drei Jahre nach der Abfassung des Römerbriefs kam Paulus dann tatsächlich nach Rom, allerdings anders als er es vorgehabt hatte. Er kam als Gefangener und war unter ständiger Bewachung an seine Mietwohnung gebunden. Dennoch hat er dort nicht nur mit den führenden Juden Roms gesprochen.
30 Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die zu ihm kamen. 31 Er verkündete das Reich Gottes und lehrte über Jesus Christus, den Herrn – mit allem Freimut, ungehindert. (Apostelgeschichte 28,30-31)
Es werden hier zwei Aspekte genannt. Er hat das Reich Gottes verkündet, d. h., er hat interessierten Außenstehenden das Evangelium nahegebracht. Wenn es heißt, dass er über Jesus Christus, den Herrn, gelehrt hat, könnte Lukas damit seine Lehrtätigkeit unter Gläubigen gemeint haben, obwohl die Verkündigung des Reiches Gottes nicht ohne Lehre über Jesus geht. Wir sehen hier, dass Paulus auch in seiner Gefangenschaft die Verkündigung des Evangeliums sehr wichtig war.
Dank sei Gott, der uns stets im Triumphzug Christi mitführt und durch uns den Geruch seiner Erkenntnis an allen Orten verbreitet!
(2 Korinther 2,14)