7 Um zweierlei bitte ich dich, versag es mir nicht, bevor ich sterbe: 8 Falschheit und Lügenwort halt fern von mir; gib mir weder Armut noch Reichtum, nähr mich mit dem Brot, das mir nötig ist, 9 damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne und sage: Wer ist denn der HERR?, damit ich nicht als Armer zum Dieb werde und mich am Namen meines Gottes vergreife. (Sprichwörter 30,7-9)
In Sprichwörter 30 findet sich eine Sammlung von Worten eines sonst unbekannten Weisen namens Agur. In den zitierten Versen bittet er Gott um zwei Dinge, die ihn bis zum Tod begleiten sollen. „Bevor ich sterbe“ kann nicht bedeuten, dass Gott ihm diese Dinge erst kurz vor dem Tod schenken soll, dass er aber zuvor sein eigenes Leben nach Lust und Laune gestalten will. Gemeint ist: Sein ganzes Leben lang bis zu seinem Tod möge Gott ihm diese Dinge nicht versagen.
Der Weise bittet um Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit.
Das in Vers 8 mit „Falschheit“ übersetzte Wort שָׁוְא / šāw′ hat die Bedeutung „Lüge, Trug, Falschheit, Nichtigkeit“. Martin Buber übersetzt es mit „Wahn“. Er schreibt dazu:1
Schaw ist das Fiktive – und zwar im Unterschied z. B. von hebel, Dunst oder Tand, das Fiktive besonders als dem die Realität angemaßt wird, das sich daher bis zum eigentlich Widergöttlichen, Widerwirklichen steigern kann. Wörter wie »eitel«, »nichtig«, »falsch« sind daher nicht stark genug, um diese Weltmacht des Götzentums zu benennen; es gibt nur ein einziges deutsches Wort, das dies vermag, und das ist »Wahn«. […] Dem schaw ergibt sich eben nicht bloß, wer vom Wahn aus, sondern auch wer auf den Wahn hin redet oder handelt; nicht bloß wer Wahn übt, sondern auch wer Wahn erzeugt; […]
Die „Falschheit“, vor der Agur bewahrt werden will, ist das Bauen auf einen Wahn, auf eine Fiktion, die die Stabilität, die sie verspricht, nicht geben kann. Eine tragfähige Realität finden wir nur in Gott, dem Schöpfer von allem, das ist. Er und sein ewiges Wort ist die einzige Wirklichkeit, auf die man sein Leben bauen kann.
Verlasst euch stets auf den HERRN; denn GOTT, der Herr, ist ein ewiger Fels. (Jesaja 26,4)
24 Jeder, der diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. 25 Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut. 26 Und jeder, der diese meine Worte hört und nicht danach handelt, ist ein Tor, der sein Haus auf Sand baute. 27 Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört. (Matthäus 6,24-27)
Wer sein Leben vom Wahn fernhält, wird persönlich in seinen Worten und Taten wahrhaftig sein. Wer auf dem Fundament der Wahrheit aufbaut, in dem ist kein Platz für ein „Lügenwort“ oder „täuschende Rede“, wie es Buber wiedergibt. Weil er weiß, wie er vor Gott steht, wird er weder sich noch anderen etwas vorspielen. Dadurch gewinnt das Leben eine Ausrichtung, die ans Ziel führt.
Die zweite Bitte ist die Bitte um Bescheidenheit.
Wer sein Leben auf die Wirklichkeit Gottes baut, weiß um die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Materiellen. Das bedeutet nicht, dass die Materie schlecht ist, sondern dass sie kein Fundament für die Ewigkeit bieten kann.
Die irdischen Dinge sind dazu da, dass wir sie in Dankbarkeit nützen, aber nicht dazu, dass sie den Sinn und das Ziel unseres Lebens darstellen.
Der Weise bittet um Bewahrung vor sowohl Armut als auch Reichtum, weil er die Gefahren von beidem sieht.
Der letzte Teil von Vers 8 erinnert an die Bitte des „Vater Unsers”:
Gib uns heute das Brot, das wir brauchen! (Matthäus 6,11)
Es geht nicht um das Ansammeln von Schätzen oder Vorräten für eine unsichere Zukunft, worüber Jesus in Lukas 12,13-21 spricht. Das Sich Verlassen auf den Besitz führt in den Wahn einer Absicherung, die über eine irdische Notlage hinweghelfen mag, aber den Menschen von Gott entfremdet.
Die Entfremdung von Gott ist nicht erst dann gegeben, wenn man so spricht, wie es in Sprichwörter 30,9a heißt:
[…] damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne und sage: Wer ist denn der HERR?
Auch wenn man Gott nicht mit Worten leugnet, verleugnet man ihn schon, wenn unser Leben von den materiellen Dingen bestimmt wird. Jesus hat im Gleichnis vom Sämann auf diese Gefahr hingewiesen:
Unter die Dornen ist der Samen bei denen gefallen, die das Wort hören, dann aber hingehen und in Sorgen, Reichtum und Genüssen des Lebens ersticken und keine Frucht bringen. (Lukas 8,14)
Paulus hat darauf hingewiesen, dass der Reichtum unsicher ist. Die Hoffnung können wir nur auf Gott setzen.
Ermahne die, die in dieser Welt reich sind, nicht überheblich zu werden und ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen! (1 Timotheus 6,17)
Agur ist sich aber auch der Gefahr der Armut bewusst, die einen Menschen zum Dieb werden lassen kann.
[…] damit ich nicht als Armer zum Dieb werde und mich am Namen meines Gottes vergreife. (Sprichwörter 30,9b)
„Mundraub“, d. h. die Entwendung von Lebensmitteln zur Stillung eines unmittelbaren Bedarfs, hat gewiss nicht die Tragweite eines anderen Diebstahls und ist in der Thora sogar gestattet:
25 Wenn du in den Weinberg eines andern kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun. 26 Wenn du durch das Kornfeld eines andern kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreißen, aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines andern nicht schwingen. (Deuteronomium 23,25-26)
Trotzdem sieht der Weise eine Gefahr darin, weil er sich vielleicht von der Not dazu gedrängt fühlte, diese in der Thora gezogenen Grenzen zu überschreiten. Er würde sich durch die Missachtung des Eigentums anderer am Namen Gottes vergreifen, oder wie es die „Neues Leben“ Übersetzung formuliert, „den heiligen Namen Gottes in den Schmutz ziehen“.
Auch wenn Jesus die Armen seligpreist, ist nicht die Armut oder absolute Besitzlosigkeit der anzustrebende Zustand, sondern die innere Freiheit, die Unabhängigkeit von den materiellen Dingen in einem Leben in Bescheidenheit und Dankbarkeit.
Wenn Gott der Fels ist, auf dem wir das Leben bauen, werden die Dinge, um der weise Agur gebeten hat Realität. Ein Leben in der Wahrheit und in dankbarer Bescheidenheit.
In Jesus Christus schenkt Gott den wahren Reichtum, der uns dazu befähigt.
Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen. (2 Korinther 8,9)
- Martin Buber, Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, 4. Band: Die Schriftwerke, 6. Auflage, Stuttgart 1992, Anhang S. 7. ↩