Ist Psalm 139 Hassrede?

19 Wolltest du, Gott, doch den Frevler töten! Ihr blutgierigen Menschen, weicht von mir! 20 Sie nennen dich in böser Absicht, deine Feinde missbrauchen deinen Namen. 21 Sollen mir nicht verhasst sein, HERR, die dich hassen, soll ich die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben? 22 Ganz und gar sind sie mir verhasst, auch mir wurden sie zu Feinden. (Psalm 139,19-22)

Sieht man von den oben zitierten Versen ab, ist Psalm 139 einer der aufbauendsten Texte des Alten Testaments. Der Psalm spricht von Gottes alles durchdringender Nähe zum Beter.

Die Verse 1-6 sprechen von seinem Wissen um uns. Gott kennt uns durch und durch. Er weiß sogar um unsere Worte, noch bevor wir sie sprechen. Je nach unserem geistlichen Zustand kann diese Nähe tröstend und Zuversicht spendend sein. Sind wir aber im Unfrieden mit Gott, kann dieses Bewusstsein des göttlichen Wissens um unseren Zustand zur Bedrückung werden, die uns dazu führen soll, den Frieden mit ihm in der Umkehr von den Sünden zu suchen.

Auch in den Versen 7-12 sind diese beiden Aspekte enthalten. Wie können Gott nicht entfliehen. Wohin immer wir laufen wollen, entkommen wir ihm nicht. Das kann einerseits sehr tröstlich sein, wenn man um die Nähe Gottes selbst in der größten Dunkelheit weiß. Andererseits soll das Wissen, dass man vor Gott nicht davonlaufen kann, die Dringlichkeit der Umkehr von Sünden aufzeigen.

Im dritten Teil des Psalms, in den Versen 13-18, staunt der Psalmist über Gottes allwissende Nähe dadurch, dass er seine Entstehung im Schoß seiner Mutter bedenkt. Er sieht, wie großartig und wunderbar Gott ihn gemacht hat, wie er von Anfang an von seiner liebenden Nähe umgeben war. Gott wusste schon um alle seine Tage, noch bevor ein einziger von ihnen da war. Gott ist dem Menschen bereits im Mutterschoß nahe. Das zeigt, dass das Leben des Menschen von Anfang an allen Schutz verdient und es nie einen Grund geben darf, dieses kostbare Geschenk Gottes zu zerstören. Der Psalmist ist erstaunt über die Größe des Werkes Gottes und seine Gedanken, die für ihn unfassbar sind.

Doch dann kommt der große Bruch ab Vers 19. Die bisher vertrauensvolle Anrede Gottes, das große Staunen über seine wunderbaren Werke und über seine Nähe wechselt abrupt in die Bitte um die Bestrafung des Frevlers. Ja, der Psalmist betont in stärkster Weise seinen Hass, zuerst in einer rhetorischen Frage, danach aber mit ausdrücklicher Betonung: Ganz und gar sind sie mir verhasst. Buber übersetzt näher am hebräischen Text: Ich hasse sie mit der Allheit des Hasses. Ähnlich die Elberfelder Bibel: Mit äußerstem Hass hasse ich sie. Sehr viel stärker kann man den Hass nicht ausdrücken. Hier ist der Fall anders als in Lukas 14,26, wo es darum geht, andere Menschen hintanzustellen, weil Jesus die erste Position im Leben gebührt. Die Einheitsübersetzung schreibt dort statt „hassen“ „gering achten“.

Warum kommt es zu diesem abrupten Wechsel? Wie ist das zu beurteilen?

Ein Erklärungsversuch, den ich einmal gelesen habe, wollte den Psalm in der Situation einer Gerichtsverhandlung sehen. Zuerst betont der Angeklagte seine Unschuld. Er tut das dadurch, dass er über Gott spricht, der alles von ihm weiß, vor dem er nichts verstecken kann, der ihn seit Beginn seines Lebens kennt. Die darauf folgende Bitte um die Bestrafung des Frevlers meine den Ankläger. Dazu passt Vers 19b: Ihr blutgierigen Menschen, weicht von mir! Der Ankläger habe es mit seiner Anklage darauf abgezielt, den Angeklagten zu töten. Bei unrechtmäßiger Anklage musste nach dem Gesetz der Ankläger sterben.

[…] 18 wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, 19 dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. (Deuteronomium 19,18-19)

Aus diesem Grund folge dem Bekenntnis zur Allwissenheit Gottes die Bitte um die Tötung des Frevlers.

Diese Deutung würde gut erklären, warum diese Bitte um die Bestrafung des Frevlers ihren Platz in diesem Psalm hat. Es gibt jedoch nichts, was positiv darauf hinweisen würde, dass es hier um einen unschuldig Angeklagten vor Gericht geht.

Aus 19b kann man aber schon vermuten, dass sich der Beter des Psalms von blutgierigen Menschen bedrängt fühlt oder weiß. Er betont aber nicht das, was sie gegen ihn vorhaben. Er weist auf das hin, wie sie gegen Gott handeln. Sie missbrauchen Gottes Namen für ihre eigenen bösen Pläne. Es geht ihnen nicht um Gott, sondern nur um ihren eigenen Vorteil. Der Grund für den Hass des Psalmisten ist der Hass der Frevler gegen Gott. Gottes Feinde wurden zu den Feinden des gottesfürchtigen Menschen.

Es geht um Gerechtigkeit, nicht um Rache für persönlich erlittenes Unrecht. Der Beter sieht die Frevler vom Standpunkt Gottes her. Es ist auch Gott, der für die Bestrafung sorgen soll. Der Beter hat nicht vor, dem Handeln Gottes vorzugreifen.

So wie die Frevler Gott hassen, wie sie sich durch ihre Gesinnung und ihr Tun von Gott losgesagt haben, auch wenn sie für ihre eigenen Zwecke Gottes Namen nennen, so will sich der Beter gründlich von diesen Menschen lossagen. Er will nichts mit ihnen zu tun haben. Das ist der äußerste Hass, den er ihnen entgegenbringt. Die Bestrafung der Bösen nimmt er aber nicht in seine Hand. Das überlässt er Gott.

Im Neuen Testament hat uns Jesus weiter geführt. Jesus hat uns die Feindesliebe gelehrt, die bei Feindschaften auf persönlicher Ebene auch im Alten Testament schon geboten war (z. B.: Exodus 23,4-5; Sprichwörter 25,21-22). Jesus hat noch am Kreuz für seine Feinde gebetet (Lukas 23,34). Stephanus ist ihm in diesem Punkt gefolgt (Apostelgeschichte 7,60). Jesus hat sich von der Bosheit seiner Feinde distanziert, wollte aber dennoch bis zum Schluss ihr Bestes. Er hat ihre Bosheit dadurch nicht geringer gemacht. Seine Liebe für die Feinde war kein oberflächliches Gefühl, das ihre Sünde nicht ernst nahm. Aber seine Liebe war stärker als ihr Hass. Er ist auch für sie gestorben.

Der klare Blick für die Sünde ist die Voraussetzung für echte Feindesliebe, die die Umkehr des Menschen will. Echte Umkehr kann es ohne Sündenerkenntnis nicht geben. Diesen klaren Blick für die Sünde mit der notwendigen Distanz dazu können wir vom Psalmisten lernen. Jesus führt dann weiter zur Liebe, die diese Bosheit überwinden kann.

Was die Verbindung zwischen dem Hauptteil des Psalms und den mit Vers 19 beginnenden Teil betrifft, so habe ich keine schlüssige Erklärung, sofern man die Deutung mit der Situation vor Gericht nicht annehmen will. Das verbindende Element ist Gottes Allwissenheit. Gott weiß alles über mich, aber auch über die Frevler.

Wichtig sind die Schlussverse, in denen der Psalmist ausdrückt, dass er alles vor Gott bringen will. Gott soll ihn prüfen. Auch seine Gesinnung dem Feind gegenüber soll von Gott geprüft werden. Er möchte nicht auf dem Weg der Götzen gehen, es soll nichts in seinem Leben geben, das wichtiger ist als Gott. (Das Wort für „Götze“ ist unklar. Möglich ist auch die Übersetzung „Mühsal“. Die alte griechische Übersetzung der Septuaginta bietet: „Weg der Gesetzlosigkeit“.) Der Psalmist will alles Gott anvertrauen, der ihn durch und durch kennt. Er ist es, der ihn und uns ändern kann. In diesen Schlussversen ist der Psalmist ein Vorbild für alle Gläubigen.

23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! 24 Sieh doch, ob ich auf dem Weg der Götzen bin, leite mich auf dem Weg der Ewigkeit! (Psalm 139,23-24)

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