Keine, eine oder zwei Brotvermehrungen?

In Matthäus 14,13-21, Markus 6,30-44, Lukas 9,10-17 und Johannes 6,1-15 lesen wir dass Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen eine Volksmenge von etwa 5000 Männern gesättigt hat. Die ebenfalls gesättigten Frauen und Kinder wurden nicht gezählt. Zusätzlich berichten Matthäus 15,29-39 und Markus 8,1-9 über eine zweite, ähnliche Situation. Da wurden mit sieben Broten und einigen kleinen Fischen 4000 Männer gesättigt.

War das Teilen das Wunder?

Von modernen „Christen“, die sich mit Wundern schwertun, werden diese beiden Sättigungswunder manchmal so erklärt, dass Jesus nicht die Brote vermehrt, sondern die Menschen zum Teilen motiviert hat, sodass niemand hungern musste und alle satt wurden.

Auch der derzeitige Papst geht in diese Richtung, auch wenn er sich, was bei ihm nicht selten ist, nicht ganz eindeutig deklariert.

Er sagte am 25. Juli 2021, als er über Johannes 6 sprach:

Es ist interessant, dass in den Berichten über die Vermehrung der Brote in den Evangelien das Verb »vermehren« nie vorkommt. Im Gegenteil, die verwendeten Verben stehen gerade unter dem umgekehrten Vorzeichen: »brechen«, »geben«, »austeilen« (vgl. V. 11; Mt 14,19; Mk 6,41; Lk 9,16). Aber das Verb »vermehren« wird nicht verwendet. Das wahre Wunder, sagt Jesus, ist nicht die Vermehrung, die Prahlerei und Macht hervorbringt, sondern das Teilen, das miteinander Teilen, das die Liebe mehrt und es Gott gestattet, Wunder zu tun.

Natürlich ist es richtig, dass das miteinander Teilen und die Liebe im Leben eines Christen zentrale Werte darstellen. Doch was Jesus hier gemacht hat, war nicht eine Motivation zum Teilen. Die Menschen waren gekommen, um Jesus zu hören. Sie blieben wohl länger, als sie ursprünglich vorhatten. Die Texte sprechen davon, dass Jesus durch die Jünger die von ihm gesegnete Speise an die Menschen verteilte. Auch die große Menge an Broten, die übrig blieben (zwölf bzw. sieben Körbe), weist darauf hin, dass hier ein Wunder geschah, ein Wunder, das die Menschen sättigte, aber zugleich ein Ausdruck der überfließenden Gnade Gottes war, die in Jesus zu den Menschen gekommen ist.
Es mag sein, dass die Anwesenden wenigstens teilweise auch kleine Vorräte mithatten. Wäre es aber darum gegangen, dass die Menschen das, was sie mithatten, geteilt hätten, wäre wohl nichts übrig geblieben. Es würde auch die Redlichkeit der Evangelisten stark infrage stellen, wenn sie die Sache völlig anders dargestellt hätten, als sie tatsächlich ablief.

Jesus hat übrigens in diesem Zusammenhang nichts darüber gesagt, dass „Vermehrung Prahlerei und Macht hervorbringt“. Jesus hat die Not gesehen und hat den Menschen in ihrer Not geholfen. Da ging es – trotz der Vermehrung – nicht um Prahlerei und Macht. Jesus kam, um zu dienen (Markus 10,45). Das hat er auch in dieser Situation gemacht.

In 2 Könige 4,42-44 wird ein ähnliches Wunder über Elischa erzählt. Er sättigte hundert Mann mit zwanzig Gerstenbroten. Auch dort war es klar, dass es sich nicht um eine Aufforderung zum Teilen handelte.

Es ist leider so, dass sich der Unglaube an die Wunder Jesu sehr gut hinter frommen Worten verstecken kann. Umgekehrt entbindet der Glaube an die Wunder Jesu nicht von einem Leben nach seinen Geboten.

Nur eine Brotvermehrung?

Viele Theologen halten die Abschnitte Matthäus 15,29-39 und Markus 8,1-9 für eine Doppelüberlieferung derselben Begebenheit wie die erste Brotvermehrung, wobei bei vielen davon ausgegangen werden muss, dass sie auch dieses Speisungswunder nicht als Wunder im eigentlichen Wortsinn verstehen. Die Evangelisten hätten nicht erkannt, dass es sich um zwei Überlieferungen desselben Ereignisses handle und daher zwei Brotvermehrungen niedergeschrieben. Dafür würde sprechen, dass Lukas und Johannes nur über ein Speisungswunder sprechen.

Dazu ist festzustellen:

  • Johannes schreibt nur über wenige Wunder, die aber meist in einem bedeutenden theologischen Zusammenhang stehen. So kommt jede „Art“ Wunder höchstens einmal vor. Wenn Johannes z. B. nur eine Blindenheilung (Johannes 9) erwähnt, warum sollte er über zwei Brotvermehrungen schreiben?
  • Lukas schreibt zwar über mehr Wunder als Johannes, aber er folgt auch nicht immer der Darstellung der beiden anderen Synoptiker. Auch Lukas berichtet ausführlich nur über eine Blindenheilung, die er mit Matthäus und Markus gemeinsam hat (Lukas 18,35-43), während Matthäus und Markus noch über weitere Blindenheilungen schreiben (Matthäus 9,27-31; 12,22; Markus 8,2-26). Es ist durchaus möglich, dass Lukas nicht über zwei ähnliche Wunder schreiben wollte.
  • Die Anzahl der Gesättigten unterscheidet sich. Beim ersten Wunder werden 5000 Männer genannt, beim zweiten aber 4000.
  • Ebenso unterscheidet sich die Anzahl der Brote: Fünf bei der ersten Speisung, sieben bei der zweiten.
  • Bei der ersten Speisung wurden von den Überresten zwölf Körbe gesammelt, bei der zweiten waren es sieben Körbe.
  • Es ist auffällig, dass das zweite Wunder im Vergleich zum ersten etwas kleiner ausfiel. Bei der zweiten Speisung wurden mit mehr Broten weniger Menschen gesättigt. Es blieb auch weniger übrig. Im Falle einer literarischen Doppelung würde man sich erwarten, dass ein Steigerungseffekt auftritt, dass das zweite Wunder noch größer wäre als das erste.
  • Bei der ersten Speisung waren die Menschen nur einen Tag bei Jesus, bei der zweiten harrten sie schon drei Tage (Matthäus 15,32; Markus 8,2) bei Jesus aus.
  • Bei beiden Ereignissen wurden unterschiedliche Körbe zum Einsammeln der Brocken verwendet. Bei der ersten Brotvermehrung steht das Wort κόφινος / kóphinos, bei der zweiten σπυρίς / spyrís. Da Paulus laut Apostelgeschichte 9,25 in einer spyrís die Stadtmauer von Damaskus hinabgelassen wurde, hat es sich dabei wohl nicht nur um einen Handkorb gehandelt. Manche nehmen an, dass es sich beim kóphinos um einen Weidenkorb, bei der spyrís um einen Schilfkorb handle. Auch wenn sich im Nachhinein der Unterschied nicht mehr exakt feststellen lässt, so kannte man diesen Unterschied in der Antike, weshalb auch in Matthäus 16,9-10 und Markus 8,19-20 dieser Unterschied gemacht wird.
  • In Matthäus 16,9-10 und Markus 8,19-20 erinnert Jesus seine Jünger an beide Speisungswunder. Hätte es nicht zwei Wunder gegeben, müsste es sich bei diesen Abschnitten um frei erfundene Dialoge handeln. Das stellt zwar für Theologen kein besonders großes Problem dar. Es ist aber zu beachten, dass in diesem Zusammenhang der Kleinglaube (Matthäus 16,8) bzw. die Verstockung (Markus 8,17) der Jünger das Thema ist. Es ist nicht zu erwarten, dass die Jünger diese Dialoge, die sie in ein schlechtes Licht stellen, so einfach erfunden hätten. Gerade weil diese Ermahnung für sie so wichtig war, wurde sie von den Evangelisten auch festgehalten.

Es spricht also alles dafür, das Jesus tatsächlich in zwei Situationen die hungrigen Menschen, die ihm gefolgt waren, auf wunderbare Weise gesättigt hat.

Er, der damals den leiblichen Hunger gestillt hat, hat sich ganz hingegeben, um als das geistliche Brot unseren geistlichen Hunger zu stillen.

Jesus antwortete ihnen:
Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. (Johannes 6,35)

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