Manche Themen oder Ereignisse finden sich sowohl in der Bibel als auch im Koran. Es ist in diesen Fällen immer interessant und lehrreich, die betreffenden Texte zu vergleichen. Ein Beispiel dafür ist der Besuch der Königin von Saba bei Salomo.
Zuerst der biblische Text:
1 Die Königin von Saba hörte vom Ruf Salomos, der zum Ruhm des HERRN gereichte, und kam, um ihn mit Rätselfragen auf die Probe zu stellen. 2 Sie kam nach Jerusalem mit sehr großem Gefolge, mit Kamelen, die Balsam, eine gewaltige Menge Gold und Edelsteine trugen, trat bei Salomo ein und redete mit ihm über alles, was sie in ihrem Herzen erwogen hatte. 3 Salomo gab ihr Antwort auf alle Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war und was er ihr nicht hätte sagen können. 4 Als nun die Königin von Saba die ganze Weisheit Salomos erkannte, als sie den Palast sah, den er gebaut hatte, 5 die Speisen auf seiner Tafel, die Sitzplätze seiner Beamten, das Aufwarten der Diener und ihre Gewänder, seine Getränke und sein Brandopfer, das er im Haus des HERRN darbrachte, da stockte ihr der Atem. 6 Sie sagte zum König: Was ich in meinem Land über dich und deine Weisheit gehört habe, ist wirklich wahr. 7 Ich wollte es nicht glauben, bis ich nun selbst gekommen bin und es mit eigenen Augen gesehen habe. Und wahrlich, nicht einmal die Hälfte hat man mir berichtet; deine Weisheit und deine Vorzüge übertreffen alles, was ich gehört habe. 8 Glücklich sind deine Männer, glücklich diese deine Diener, die allezeit vor dir stehen und deine Weisheit hören. 9 Gepriesen sei der HERR, dein Gott, der an dir Gefallen fand und dich auf den Thron Israels setzte. Weil der HERR Israel ewig liebt, hat er dich zum König bestellt, damit du Recht und Gerechtigkeit übst. 10 Sie gab dem König hundertzwanzig Talente Gold, dazu eine sehr große Menge Balsam und Edelsteine. Niemals mehr kam so viel Balsam in das Land, wie die Königin von Saba dem König Salomo schenkte. […] 13 König Salomo gewährte der Königin von Saba alles, was sie wünschte und begehrte. Dazu beschenkte er sie reichlich, wie es nur der König Salomo vermochte. Schließlich kehrte sie mit ihrem Gefolge in ihr Land zurück. (1 Könige 10,1-10.13)
So steht’s im Koran:
16 Und Sulaiman beerbte Dawud und sagte: „O ihr Menschen, uns ist die Sprache der Vögel gelehrt worden, und uns wurde von allem gegeben. Das ist wahrlich die deutliche Huld.“ 17 Und versammelt wurden für Sulaiman seine Heerscharen – unter den Ginn, Menschen und Vögeln -, und so wurden sie in Reihen geordnet. […] 20 Und er schaute bei den Vögeln nach. Da sagte er: „Wie kommt es, daß ich den Wiedehopf nicht sehe? Befindet er sich etwa unter den Abwesenden? 21 Ich werde ihn ganz gewiß strengstens strafen, oder ich werde ihn ganz gewiß hinrichten (lassen)‘, es sei denn, er bringt mir fürwahr eine deutliche Ermächtigung.“ 22 Aber er blieb nicht lange aus. Er sagte: „Ich habe (an Wissen) erfaßt, was du nicht erfaßt hast. Und ich bringe dir aus Saba sichere Kunde. 23 Gewiß, ich habe herausgefunden, daß eine Frau über sie herrscht, daß ihr von allem gegeben worden ist und daß sie einen gewaltigen Thron hat. 24 Ich habe herausgefunden, daß sie und ihr Volk sich vor der Sonne niederwerfen, anstatt vor Allah. Und der Satan hat ihnen ihre Taten ausgeschmückt und sie dann vom Weg abgehalten, so daß sie nicht rechtgeleitet sind, 25 (dies), damit sie sich nicht vor Allah niederwerfen, Der das Versteckte in den Himmeln und auf der Erde herausbringt und weiß, was ihr verbergt, und was ihr offenlegt. 26 Allah – es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Herrn des gewaltigen Thrones.“ 27 Er sagte: „Wir werden schauen, ob du die Wahrheit sagst oder ob du zu den Lügnern gehörst. 28 Geh mit diesem meinem Schreiben, überbringe es ihnen und kehre dich hierauf von ihnen ab. Dann schau, was sie erwidern.“ 29 Sie sagte: „O ihr führende Schar, mir ist ein edles Schreiben zugeworfen worden. 30 Gewiß, es ist von Sulaiman, und es lautet: ,Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. 31 Seid mir gegenüber nicht überheblich und kommt als (Allah) Ergebene zu mir‘.“ 32 Sie sagte: „O ihr führende Schar, gebt mir eure Meinung über meine Angelegenheit bekannt; ich pflege ja keine Angelegenheit zu entscheiden, solange ihr nicht bei mir anwesend seid.“ 33 Sie sagten: „Wir besitzen eine Streitmacht und besitzen eine starke Gewalt, doch es steht dir zu, zu befehlen. So sieh zu, was du befehlen willst.“ 34 Sie sagte: „Gewiß, wenn Könige eine Stadt betreten, verderben sie sie und machen die Mächtigen ihrer Bewohner zu Erniedrigten, und so handeln sie. 35 Gewiß, ich werde (Boten) zu ihnen senden mit einem Geschenk und dann abwarten, was (für eine Antwort) die Gesandten zurückbringen.“ 36 Als er zu Sulaiman kam, sagte dieser : „Wollt ihr mich mit Besitz unterstützen? Aber das, was mir Allah gegeben hat, ist besser als das, was Er euch gegeben hat. Nein! Vielmehr seid ihr es, die ihr über euer Geschenk froh seid. 37 Kehr zu ihnen zurück. Wir werden ganz gewiß mit Heerscharen über sie kommen, denen sie nichts entgegenzusetzen haben. Und wir werden sie ganz gewiß erniedrigt daraus vertreiben, als Geringgeachtete.“ 38 Er sagte: „O ihr führende Schar, wer von euch bringt mir ihren Thron, bevor sie als (Allah) Ergebene zu mir kommen?“ 39 Ein unüberwindlicher von den Ginn sagte: „Ich bringe ihn dir, bevor du dich von deiner Stelle erhebst. Und ich bin wahrlich stark (genug) dazu und vertrauenswürdig.“ 40 Derjenige, der Wissen aus der Schrift hatte, sagte: „Ich bringe ihn dir, bevor dein Blick zu dir zurückkehrt.“ Als er ihn unbeweglich bei sich stehen sah, sagte er: „Dies ist von der Huld meines Herrn, damit Er mich prüft, ob ich dankbar oder undankbar bin. Wer dankbar ist, der ist nur zu seinem eigenen Vorteil dankbar; wer aber undankbar ist – so ist mein Herr unbedürftig und freigebig.“ 41 Er sagte: „Macht ihr ihren Thron unkenntlich, wir wollen schauen, ob sie rechtgeleitet wird oder ob sie zu denjenigen gehört, die nicht rechtgeleitet werden.“ 42 Als sie kam, wurde (zu ihr) gesagt: „Ist dein Thron so (wie dieser hier)?“ Sie sagte: „Es ist so, als ob er es sei.“ (Sulaiman sagte:) „Und uns wurde schon davor das Wissen gegeben, und wir waren (Allah) ergeben.“ 43 Aber abgehalten (vom Glauben) hat sie das, dem sie anstatt Allahs diente, denn sie gehörte zu ungläubigen Leuten. 44 Es wurde zu ihr gesagt: „Tritt in den Prachtbau ein.“ Als sie ihn sah, hielt sie ihn für ein tiefes Wasser und entblößte ihre Unterschenkel. Er sagte: „Es ist ein mit Glas ausgelegter Prachtbau.“ Sie sagte: „Mein Herr, ich habe mir selbst Unrecht zugefügt, aber ich ergebe mich (nun), zusammen mit Sulaiman, Allah, dem Herrn der Weltenbewohner.“ (Sure 27,16-17.20-44)
Es fällt auf, dass der koranische Text um einiges länger ist als der ältere Text aus der Bibel. Während in der Bibel der Ruf Salomos als Motivation der Königin zu diesem Besuch genannt wird (die in den Versen 2 ,10 und 13 genannten Güter weisen auch auf wirtschaftliche Gründe hin), liefert der Koran eine umfangreiche Vorgeschichte, die den größten Teil des Textes einnimmt. Diese Geschichte hört sich sehr fantastisch an, wie ein Märchen.
In Vers 16 sagt Sulaiman, dass ihm die Sprache der Vögel gelehrt worden ist. Die Bibel sagt in 1 Könige 5,13, dass Salomo über die Vögel gesprochen hat. Aber nicht mit ihnen. Wohl aber gibt es in der jüdischen Tradition Texte, denen zufolge Salomo mit Tieren kommunizierte. Besonders der im Targum Scheni zum Estherbuch vorliegende Text hat viele Ähnlichkeiten zur Sure 27.1 Es ist nicht notwendig, anzunehmen, dass der Autor des Korans diesen Targum kannte. Es würde reichen, dass ihm die im Targum niedergeschriebenen Inhalte durch mündliche Überlieferung bekannt waren.
Im Targum Scheni befahl Salomo, das Wild des Waldes, die Vögel des Himmels, das Gewürm der Erde und die Dämonen vor seinen Thron zu bringen. Nur der Auerhahn kam nicht. Darüber war der König so erzürnt, dass er ihn strafen wollte. Der Auerhahn des Targum entspricht dem Wiedehopf der koranischen Version. Der Auerhahn berichtete über die Königin von Saba und bot sich an, in ihr Land zu gehen, ihre Fürsten in Ketten zu legen und sie zum König zu bringen.
Der Auerhahn wurde dann mit einem Brief zur Königin geschickt (wie der Wiedehopf in Sure 27,28). Die Königin berät sich in beiden Texten mit ihren Beratern. Sulaimans Kriegsdrohung in 27,37 scheint aber keine Parallele im Targum zu haben, wohl aber Parallelen in dem, was über Mohammed berichtet wird. So gibt es einen angeblichen Brief Mohammeds an die Führer und das Volk von Oman. Sie werden aufgefordert, den Islam anzunehmen. Falls sie das nicht tun, werden seine Reiter über sie kommen.2
Die Geschichte, dass Salomo den Thron der Königin zu sich bringen ließ, ist jedoch aus der jüdischen Überlieferung nicht bekannt. Heinrich Speyer vermutete eine christliche Version der Salomosage.
Sure 27,44 hat wieder eine Parallele zum Targum Scheni:
Als der König hörte, dass die Königin von Saba ankomme, setzte er sich auf seinen Thron in seinem Glassaale. Die Königin, die meinte, Salomos Thron stehe mitten im Wasser, hob ihre Gewänder hoch, damit sie nicht nass würden. (zitiert nach Speyer, S. 397)
Es ist offensichtlich, dass der Koran teilweise bis in kleine Details mit der jüdischen Überlieferung übereinstimmt, wobei der Koran von den jüdischen Traditionen abhängig ist.
Für mich stellen sich aus der koranischen Erzählung über die Königin von Saba folgende Fragen:
- Wenn der Koran das ewige Wort Gottes ist, warum ist er dann von jüdischen Legenden abhängig, die offensichtlich nicht der geschichtlichen Überlieferung entstammen, sondern der menschlichen Fantasie?
- Wie ist es möglich, dass Menschen mit Tieren auf einer Ebene kommunizieren können? Wird hier nicht der grundsätzliche Unterschied zwischen Mensch und Tier ignoriert? Können Vögel derart komplexe Inhalte ausdrücken, wie sie in Sure 27,22-26 geschrieben sind? Das ist einerseits eine Frage der Intelligenz der Vögel, andererseits auch die Frage, ob die Vögel das in ihrer Sprache ausdrücken könnten? Zusätzlich kommt auch die Frage nach dem Personsein des Menschen ins Spiel, die sich die Autoren sowohl des Targums als auch des Korans nicht gestellt haben.
Der biblische Bericht kommt ohne diese fantasievolle Ausschmückung aus und ist dadurch glaubwürdiger. Dem Autor des koranischen Textes fehlte offensichtlich das Urteilsvermögen, mit dem er Wirklichkeit und Fantasie unterscheiden konnte. Somit ist die koranische Erzählung über den Besuch der Königin von Saba ein weiterer Hinweis darauf, dass der Koran nicht das ewige Wort Gottes ist, sondern Menschenwerk. Zusätzlich sei noch auf das unterschiedliche Inspirationsverständnis im Christentum und im Islam hingewiesen.
Wenn du über das, was Wir zu dir (als Offenbarung) hinabgesandt haben, im Zweifel bist, dann frag diejenigen, die vor dir die Schrift lesen. (Sure 10,94a)
Die Königin des Südens wird beim Gericht gegen diese Generation auftreten und sie verurteilen; denn sie kam vom Ende der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo. (Matthäus 12,42)
- Diesen und weitere Hinweise verdanke ich: Heinrich Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, 1988 (Nachdruck der Ausgabe Gräfenhainichen 1931), S.384, 389ff. Speyer weist auch darauf hin, dass der Targum in seiner jetzigen Fassung „jung“ zu sein scheint, aber sicher aus alten Quellen schöpft (S.390, Fußnote 1). Ich konnte nicht eruieren, was Speyer mit „jung“ meinte. ↩
- Interessanterweise sieht gerade die Regierung des Oman in diesem Brief, dessen Text aber nicht zitiert wird, eine Widerlegung der „im Westen verbreiteten Vorstellung, dass sich der Islam nur durch den Einsatz von Gewalt ausgebreitet hat.“ ↩