Hat Jesus gelogen?

1 Danach zog Jesus in Galiläa umher; denn er wollte sich nicht in Judäa aufhalten, weil die Juden ihn zu töten suchten. 2 Das Laubhüttenfest der Juden war nahe. 3 Da sagten seine Brüder zu ihm: Geh von hier fort und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Taten sehen, die du vollbringst! 4 Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte. Wenn du dies tust, offenbare dich der Welt! 5 Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn. 6 Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte Zeit. 7 Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich bezeuge, dass ihre Taten böse sind. 8 Geht ihr nur hinauf zum Fest; ich gehe nicht zu diesem Fest hinauf, weil meine Zeit noch nicht erfüllt ist. 9 Das sagte er zu ihnen und er blieb in Galiläa. 10 Als aber seine Brüder zum Fest hinaufgegangen waren, zog auch er hinauf, jedoch nicht öffentlich, sondern im Verborgenen. (Johannes 7,1-10)

Diese Begebenheit ist vermutlich in den Herbst des Jahres 29 zu datieren, ca. ein halbes Jahr vor dem Tod Jesu. Jesus hatte sein öffentliches Wirken in Galiläa abgeschlossen. Das Laubhüttenfest war eines der drei jüdischen Hauptfeste, zu denen jeder, dem es möglich war, nach Jerusalem pilgerte. Die Brüder Jesu sahen in diesem Fest eine gute Gelegenheit, dass sich Jesus vor dem zahlreich versammelten Volk offenbaren sollte. Jesus lehnte deren Vorschlag ab, sagte, dass er nicht zum Fest hinaufziehen werde. Später begab sich Jesus aber dennoch nach Jerusalem.

Hat Jesus hier gelogen? Hat er, der für sich den Anspruch erhoben hat, die Wahrheit in Person zu sein (Johannes 14,6), die Unwahrheit gesprochen? War bei Jesus, der gesagt hat: „Eure Rede sei: Ja ja, nein nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen.“ (Matthäus 5,37), das Nein ein Ja?

Es scheint, dass auch schon frühe Abschreiber des Johannesevangeliums mit dieser Stelle ein Problem hatten, und den Text von Vers 8 abänderten: „Ich gehe noch nicht zu diesem Fest hinauf.“ Diese Textvariante findet sich bereits in den Papyri 66 und 75, den ältesten Textzeugen zu dieser Stelle, ebenso auch im Kodex Vaticanus und in zahlreichen anderen Manuskripten. Trotz dieser guten Bezeugung des „noch nicht“ legt es sich nahe, an der Variante „ich gehe nicht“ festzuhalten, weil einfach das Motiv fehlt, warum ein Abschreiber aus dem „noch nicht“ ein „nicht“ gemacht haben sollte. Keiner der Kopisten wollte Jesus in ein schlechteres Licht stellen.

Doch wie ist diese Stelle nun zu verstehen?

Die Brüder Jesu glaubten damals nicht an ihn, waren aber nicht seine Feinde. Es scheint, dass sie durchaus mit der Möglichkeit rechneten, dass Jesus der von Gott verheißene Messias sein könne. Sie wussten über seine Wunder, sie waren ja auch beim ersten Wunder Jesu, der Verwandlung von Wasser in Wein, dabei gewesen (Johannes 2,12). Aber sie hatten offensichtlich eine abwartende Position. Vielleicht dachten sie, dass Jesus, wenn er wirklich der Messias ist, sich auch in der Öffentlichkeit als solcher deklarieren sollte und endlich anfangen sollte, das Reich Gottes aufzurichten. Dazu wäre doch das Laubhüttenfest eine hervorragende Gelegenheit. „Offenbare dich der Welt!“ war ihre Aufforderung in Vers 4.

Jesus, der Messias wollte sich aber nur vom Willen seines Vaters abhängig machen, nicht aber von den Aufforderungen seiner Familie. Das sagte er bereits seiner Mutter auf der Hochzeit zu Kana (Johannes 2,4). Und nun hatte er dieselbe Botschaft seinen Brüdern zu vermitteln. Seine Zeit, sich der Welt zu offenbaren, lag in der Hand seines Vaters und hing nicht von seinen Brüdern ab. Die Brüder sollten ruhig zum Fest gehen, um das zu tun, was sie als fromme Juden tun sollten. Jesus aber hatte nicht vor, zum Fest zu gehen, um das zu tun, was seine Brüder von ihm forderten. Er wusste, dass es noch nicht die Zeit war, sich als Messias zu offenbaren. Darum konnte Jesus sagen: „Ich gehe nicht hinauf.“ Er ging nicht hinauf, um sich – wie es seine Brüder vorschlugen – als Messias zu zeigen.

Er ging später nur im Verborgenen hinauf. Er wollte seine Gegner nicht durch einen großen öffentlichen Auftritt gleich am Beginn des Festes provozieren. Er wusste, dass die führenden Priester und Pharisäer seinen Tod wünschten. Jesus wusste auch, dass er sterben würde, dass aber jetzt noch nicht die Zeit dafür gekommen war. Er wollte die Zeit noch für den Dienst des Lehrens nützen, was er auch tat (Johannes 7,14).

Jesus war nicht verpflichtet, seine ungläubigen Brüder in seine Pläne einzuweihen. Er hat ihnen klar gesagt, dass er ihren Vorstellungen nicht entsprechen wird. So war es durchaus berechtigt, dass er ihnen sagte: „Ich gehe nicht hinauf.“ Offensichtlich haben auch seine Brüder das Verhalten Jesu nicht als Lüge interpretiert, da doch mindestens zwei von ihnen (Jakobus und Judas) später seine Jünger wurden.

Nein, Jesus hat nicht gelogen. Er ist die Wahrheit in Person. Er ruft auch uns zu einem Leben in Wahrhaftigkeit und Treue.

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,14)

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